Dranmor IX,5b

(Flugstunde)

Ich scherze. Dass man wohl von Glück sprechen müsse, dass es so früh sei und kein Mensch unterwegs. Dann: man käme leicht auf die Idee, dass mit uns etwas nicht stimme, sage ich, als wir die Quartiere erreichen und dort auf den Strassen die müden Lampen meiden. Dass man uns sicher zur Rede stellen würde, ein halbnackter Mensch, ein Vogel, ein rotes, flaumiges Etwas, die Anstösserstrassen hinunterhastend.

Und ich friere etwas am Morgentau. Zu schade, meine ich noch, dass Busch und Maximilian nicht dabei seien, aber das läge ja in der Natur der Sache.

Aber: Ich solle nicht soviel reden und weiterlaufen und meine Kräfte schonen, die würde ich noch früh genug brauchen, so Sabina, aber auch das Eichhörnchen keucht und pfeift ein wenig, denn es ist es nicht gewohnt solch lange Strecken zurückzulegen und fällt ein ums andere Mal zurück. Im Montbijouviertel legen wir eine kleine Pause auf einem Kinderspielplatz ein. Ich lege mich auf eine Bank, nachdem mir verboten wurde, mich in ein Häuschen aus rohen Planken zurückzuziehen. Zehn Minuten, gibt Sabina vor, und: es sei nun nicht mehr weit. Vor der wiederholten Frage, wohin es eigentlich gehe, weicht sie wieder aus.

Dann üben wir hier! Ich lege mich, wie geheissen, auf den Bauch. Ich strecke meine Arme aus. Strecke sie im rechten Winkel von meinem Körper. Ich schaue nicht nach unten. Ich schaue dabei nach oben. Spannung richtet meine Handflächen, justiert diese parallel zum gedachten Boden ein. Spannung fliesst nun durch Oberarme und begegnet sich in den Schultern. Ob ich das spüre?

Ich werde ganz Hohlkreuz. Es fügt sich mir während Oberschenkel und Waden versteinern. Diesen Zustand müsse ich mir merken. Dies sei der Zustand. Alles weitere ein Kinderspiel. In dieser Spannung und aus dieser Spannung heraus müsse eigentlich nur noch das Kinn leicht angehoben werden, und schon läge ich in der Luft, und schon stünde meinem ersten Gleitflug nichts mehr im Wege.

Die Spannung bricht etwas zusammen und ich ermatte im Sandkasten, rappele mich bald wieder auf und streife Sand von Oberkörper und Beinen. Das Prinzip sei aber sehr einfach. Wichtig nur: Am Anfang nicht nach unten zu schauen. Immer nur nach oben, bis mich der Aufwind tragen könne. Das sei der Moment höchster Konzentration. Denn: An und in diesem Moment scheiterten die meisten, die es versuchten. Und: man müsse sich unter allen Umständen die Vergangenheit vom Leib halten. Kein Wort darüber, also, und in die Zukunft blicken. Am besten sei es aber zu schweigen.

Ob ich verstanden hätte? Oder ob man die Trockenübung noch einmal wiederholen solle? Aber es werde ja schon bald hell und man habe keine Zeit zu verlieren, also sollten wir losgehen. Wir rufen das Eichhörnchen. Sicher ist es eingeschlafen oder hat sich auf einem Baum versteckt. Es ignoriert unser Rufen. Ich möchte es gerne bei dieser Übung dabei haben, aber Sabina deutet auf ein sich allmähliches Einhellen und verweist auf ein anderes Mal, also brechen wir auf.

Der Eigerstrasse entlang. Eine Finanzbehörde. Parken nur mit gültigem Parkausweis. Es sei nicht mehr weit, da vorne, man könne schon den Brückenkopf der Monbijoubrücke sehen.

Ein Auto kommt uns entgegen, betätigt die Lichthupe, fährt dann aber doch ohne uns weiter zu stören an uns vorbei. Leichter Schwindel. Links unter uns ist schon die Dampfzentrale zu erkennen. Auf dem Sportfeld daneben hat jemand sein Konterfei mit Sand ausgelegt. Es ist unlesbar. Wir wechseln die Strassenseite. Dann windet sich die Aare unter uns. Man kann selbst am Morgen ihre Reinheit erahnen. So grün. Wenn es bald wieder regnet, wird sie ihre Geschwindigkeit verdoppeln.

Ich kralle mich noch etwas am Geländer fest. Ich wisse also, was zu tun sei? Die Spannung? Die Handflächen. Und: Auf keinen Fall nach unten zu schauen im Moment des Abstossens. Im wichtigsten Moment. Überhaupt: zu schweigen. Und auch im Schweigen jedes unnötige Wort zu vermeiden. Ich bejahe dann ihre Frage, ob ich bereit sei.

Und hier die exakte Mitte der Brücke. Und dass man klassisch bei Drei abheben wolle, gibt Sabina vor. Ich kann mich jetzt schon eine kleine Sekunde in der Luft halten. Die Morgenstimmung. Eins. Hinter dem Gurten tut sich der Tag auf und möchte dabei sein. Zwei. Sabina ist heute noch viel reizender als jemals erlebt. Drei.

Wir gleiten über den Fluss, ziehen mit unseren Körpern seine Rundungen nach. Unsere schönen Köpfe recken wir nach oben. Ich mache das sehr gut. Und ob es mir auch gut gehe? Und woran ich jetzt denke?

Ich möchte ihr etwas über Schönheit erzählen. Dann lache ich und schweige wieder. Warum ich denn lache, fragt mich Sabina, während wir den Aufwind nehmen, eine Luftsäule, und uns langsam dem Berg nähern. Ich setze neu an. Das würde sie jetzt vielleicht nicht verstehen. Gerade sei mir ein Dranmor-Gedicht eingefallen. Suspension-Bridge. Ich habe es ihr schon einmal rezitiert. Ob sie sich erinnere? O, ja, sie könne sich gut erinnern.

Wie, das der Niagara? – Mit Verdruß

Rief ich`s hinunter von der Eisenbrücke. –

Dort in der Ferne der gespaltne Fluß,

Die Thalschlucht hier, die kleinen Felsenstücke?

Mein Traum, das war ein ew`ger Wolkenbruch,

Das waren Ströme, die vom Himmel brausen.

Ich wollte wie durch einen Zauberspruch

Hineinversetzt sein in der Sündflut Grausen.

(…)