Dranmor V,1d

(Nachtwachen und ihre Bilder)

Und der kalte Tag. Frost. Ein Frosttag, der die Ziegel auf den Dächern platzen lässt, das Krachen unter dem Dach, zehn Zigaretten, zwölf, um die Teile des Pilzes, der sich nun auch dort Raum verschaffen will, zu beeinträchtigen, vornehmlich, um mich zu beruhigen.

Man würde mich gerne mal wiedersehen, so die Leitung. Ob ich denn noch wisse, dass ich übernächste Woche eine kleine Veranstaltung abzuhalten hätte. Ob ich sie überhaupt durchführen könnte, nach den vielen Absenzen. Ob man nicht etwa jemanden anderen … Ich sagte, es ginge mir bestimmt bald wieder besser. Und bis dahin wäre auch März, als wäre das ein Grund der Besserung. Nur diese drei Tage, es käme ja auch noch ein Wochenende und danach, auch wenn ich nicht präziser sagen könne, was es sei, wäre ich wieder voll dabei. Ich sagte einsatzfähig. Das zur Abteilungsleitung, die schluckte.

Der Tag hängt durch und biegt sich langsam in den Abend. Und keine Replik von Roman auf meine Mail. Auf den Gesprächswunsch. Den ganzen Tag online und alle fünf Minuten das Postfach aktualisiert. Und nichts. Und nicht einmal eine Notiz. Ob er überhaupt da ist – in der Stadt. Oder ob er Bern geflüchtet hat. Oder die Mail nicht ankam. Oder.

Und der gutmütige Wind heisst Willkommen, pfeift immer noch durch die öde Strasse. Kein Blitz oder Wetterleuchten oder Hagel, der ihn vertreiben könnte. Aber die Pfiffe schon kraftloser und das Treppenhaus damit unsicherer, so dass mir der Ausgang verwehrt bleibt und die Bestückung des Haushalts und des Kühlschranks und des Schranks mit den vielen Sachen sich verschiebt. Kein Wort, kein Laut vom Geschoss über mir. Ist sie nun auch weg? Arbeitet sie etwa noch? In ihrem Zustand? Das legendär paradoxe Schweizer Mutterschaftsgesetz. Es ist aber noch Knäckebrot da, und harziger Streichkäse, und Wein. Und alter Kirschschnaps von einem Bodenseeonkel. So wird der Flur langsam dunkler. Keine Seele mag sich regen und kein gebrochener Hals, gäbe es ihn. Die Abwesenheit von Bewegung über mir macht nervös. Eine Abwesenheit, die Bewegung erzeugt und ein Einsinken in Ruhe verhindert. Zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Uhr? Nur ein verschlafener digitaler Balken eines Weckers macht den Unterschied.

Und an dem Regal entlang fahren. Das Buch berühren, das mit dem Nagel oder Stift – ich fasse es sehr vorsichtig an und schütze den genesenden Daumen, den fast gesundeten. Rascheln. Blättern. Ein seltsamer Durchschuss auf der 114. Seite hält sie fest. Dort eine Gedicht mit dem Titel Nachtwache. Und Inselträume. Sanct-Helena! Grünes Eiland!. Und so weiter. Heiligehelenenstimmung. Und: Mein sei diese Nacht; es dränge sich kein schlotternder / Popanz / Zwischen meine matten Augen und überird`schen / Glanz. //

Nachtwacheninflation in der Dichtung. Hat sich darüber schon jemand Gedanken gemacht? Nein, diese Gedanken werden gehütet. Und obwohl diese auf See gedacht werden und aus der verkrümelten Sicht Dramors geträumt: Also vom salzigen Seewind gebrochen, keinem guten oder schlechten – wie es das Wetter sowieso nicht ist, sondern die Kleidung.

Auch das Flanieren an den Regalen: Wo weitere Nachtwachen? Da war doch noch – und richtig: die schlaflosen Nächte Bonaventuras. Dort auch kein Geräusch im Haus. Kein Licht im Treppenhaus, das eine Ankunft verkündet. Kein herzliches Willkommen.

Es ist sicher nicht das schlechte Gewissen, keine Hilfe angeboten zu haben, oder mich überhaupt nicht geregt zu haben. Keine Aufregung also und doch gerade so viel, nicht den Schlaf zu finden. Auch der etwas irre Blick, sage ich mir erst lachend, dann gebe ich zu: Spiegel lügen nicht. Badezimmerspiegel sind die ehrlichsten. Dann in oder auf die ERSTE NACHTWACHE. In der eine Nachtstunde schlug. Wurde jemand getroffen? Verletzt? Und jemand geht hinaus mit Pike und Horn. Und Märchen und Prinzen und Pest oder Sündflut. Und auch dort: ein Lämpchen im Dachkämmerchen.

Zigarettenzeit. Dort unter dem Dach ist immer noch ein Ort ohne Hatz. Ein Ort bedächtiger Inhalation. Erst der Aufstieg: es ist immer noch niemand zuhause. Die dreizehnte, das ist etwas überdurchschnittlich, wie die Dichte der Zeilen, die dort gelesen werden. Die ich plötzlich laut lesen muss, weil sie geschwiegen ihre Wirkung versagen: Halt! Dort wacht ein Kranker – auch in Träumen, wie der Poet in wahren Fieberträumen. Auf Seite Sieben. Und diese Aussage wird noch viel wahrer, weil sie laut gelesen wird. Vielleicht sollte mehr laut gelesen werden. Vielleicht würden die Dinge wahrer werden. Würde dann auch mehr geschwiegen werden.

Die Form der Nachtwache, der einen und der anderen und dieser, ist interessant, glaube ich, während ich wieder hinuntersteige und laut lese, nicht von dem Text ablasse, es ist ja ohnehin niemand wach. Auch Sätze, die nirgendwo stehen. Die noch nicht geschrieben wurden. Warum auch nicht? Auch das ist ein Thema: Eine Meditation über literarische Nachtwachen. Ich flüstere nur, man könnte mich belauschen. Man ist nicht sicher, von wem diese Einfälle entwendet werden und wo sie wieder auftauchen. Also leise, auf Zehenspitzen, das Buch wieder zurück ins Regal, nach kurzer Unterstreichung bestimmter Passagen und eine Notiz.

Weiter das Regal Richtung Südwest, ein paar Meter weiter: Da ist ja noch ein Schuhkarton, eine Bilderkiste. Sollte die nicht im Keller sein? Rom 88. Die Eddingbeschriftung. Ein Schulabschlussjahr. Die schlimme Klassenreise. Das Durchgezeche. Trinkspiele und seltsame Frisuren und ein besonders verhasstes Bild: Einer der ausschaut wie ich vor beinahe zwanzig Jahren. In Unterhosen, bewusstlos neben einer Magnumflasche Frascatiwein.

Unglaublich wieviel auf so ein Bild passt. Ein Parkstück. Im Hintergrund: das Colosseum. Feixende Mitschüler rahmen das Sujet. Sie heissen Roland, Markus, Stefan oder wie man in dem Alter zu dieser Zeit eben heisst. Und Die Silvi, Die Peti, Die Steffi – wie man in dem Alter eben genannt wird. Zwei Carabinieri nahen, wollen intervenieren. Keine Ahnung, was dann passierte. Die Bilderschachtel hat es in sich. Vor allem dieses eine. Auf der Rückseite: Alles Liebe, Ramona. Wer war das? Die Photographin. Ich überlege, ob dieses Bild nicht zerstört werden muss, unterlasse es dann aber. Schliesse diese Schachtel. Stöbere weiter.