(Stimmen, Stile, Siegel)
Nach der rezepturgemässen Einnahme geht es viel besser. Fängt es langsam zu wirken an. Alles wird viel hörbarer. Man könnte nur davor warnen, zum Beispiel, hat sie gesagt. Auch wenn es als unzeitgemäss und damit als altmodisch gelte. Aber die Konformitäten und die Massgaben der Trendsetter – was die denn bedeuteten. Und Goethe und Goeze und natürlich Lessing. In dieses Krankenbett hinein, und es ist nichts bestimmtes, also kuriere ich, wo nur möglich, so vor dem schwächelnden, frierenden Fernseher. Und noch ein paar andere, rollte sie das volle Programm aus. Und die Franzosen und Engländer und Deutschen. Deren Fussspuren, Abdrücke, Merkmale, Stempel, Prägungen und Zeichen. Und sie sagte und meinte damit Stil. Und meinte mich, als sie das sagte, so scharf sah sie in die Kamera, dass nur ich gemeint sein konnte. Erwähnte Originalitätssüchte, die nichts Schlimmes waren, nein, wenn man sich heute so umschaue: die Heutigen nur noch asketisch, diesbezüglich.
Die Auftaktveranstaltung des Fernsehlesens, des Wettlesens von dem ich mir viel Schlaf und Erholung verspreche, hatte bei ihrer veranschlagten Dichtheit meine alte Kiste ermattet. Nach einer kleinen Stunde schon ein Hitzestau, innerlich, aussen zeigt sie immer noch Gänsehaut, verabschiedete sich, und mit ihr die reizende, aber strenge Cosima Tarni, Jurorin und Moderatorin des Lesewettbewerbs der Nachwuchsautoren. Und ihre letzten Worte: Auch bei der Lektüre eines Buches lautet eine der interessantesten Begleitfragen: Wer spricht gerade? Dann fiel ihr die Unterbrechung ins Wort. Und es hallt nur noch nach: Wen kümmerts, wer spricht? – die tödliche Frageantwort. Und dass die Zäsur an dieser Stelle fällt, leuchtet sofort ein, denn die Mütter wissen: Wenn es am schönsten ist, soll man gehen. Dies im Sinn. Und das also demnach die schönste Stelle der Eröffnungsrede, nein, des Appells an die jungen Nachwuchsautoren, der so richtig motivieren soll, und motiviert und den nun entkoppelten Zuschauer, das bin ich, dazu zwingt, das Radio einzuschalten, das parallel dazu überträgt. Ohne Bilder freilich. Ohne diese Art von Bildern. Und die weitere Antwort, geht es in mir fort, auf den erschöpften Satz, die ewige Antwort auf diesen affirmativen Autorenplatz, wenn es schon niemanden kümmerte: dass die Menschheit nur ein Sandgesicht aus Worten sei an einem Strand, der sich langsam ebnete.
Im Radio klingt die bildschöne Cosima noch tiefer. Die Tradition habe oft die Stimme als Signum der Seele begriffen, sagt sie gerade, und schliesst Untertöne und Obertöne an. Und all die Innereien: Kehlköpfe, Brusträume, sie meint wohl das unverwechselbare Lungenvolumen Kafkas. Und was ein Künstler sei. Aber die trostlose Befindlichkeitsprosa, es gehe schon in Lärm über, und neuer Lärm brauche kein Mensch, er mache nur taub. Und am Ende: Wortabfall. Bei diesem Begriff werde ich hellhörig und stelle das kleine Radio lauter. Das, um die fehlenden Gesichter durch Lautstärke herzustellen, die irgendwo das Siegel trügen, als Häute über den Kehlköpfen, Brustkörben, Stirnen und Schädel, der weichen Masse darunter, die diese Bilder in jenen Stilen mit Worten erzeugten. Also auch dort, wo auch der Abfall entstünde. Wenn man nicht aufpasst und sich nicht an die eigene Nase fasst.
Cosima Tarni spricht solche bedeutenden Worte aus, und ein Moderator erklärt sie mir noch einmal. Und kündigt weitere Dinge an. Und der Applaus. Und die Stimme eines weiteren gesichtslosen Mannes mutmasst über die Befindlichkeiten der jungen Autorinnen und Autoren, die im übertragenen Sinne noch hinter dem Vorhang warteten und heute und die nächsten Tage noch bangen werden, vor dem harten Urteil der stilsicheren Kritik. Und da wäre schon der erste, der dort in einem Startloch sässe, und schwitze und auf seine Lesung und die dazugehörige Dusche warte. Und seine Mama hatte wahrscheinlich zu ihm gesagt: Langsam laut lesen, hörst du. Immer wieder. Und den kleinen Kampf, stelle ich mir vor, und die verperlte Stirnglatze, die ich leider nicht sehen kann: Soll ich nun langsam und laut lesen, oder soll ich den Text vortragen und ihn dort liegen lassen und wieder gehen. So dass sie sich alle daran bedienen könnten und daran reissen ohne mich. So dass sie ihn alle verstehen könnten, wie sie wollten. Weil die Stimme ja auch Stil eines Textes, und seine heute, wegen des vielen Vodkas gestern, eher brüchig und belegt. Und weil etwas ganz anderes aus diesem Kehlkopf oder weiter unten aus dem Brustkorb herauskäme. Birnen statt Äpfel. Etwas Musik, oder ist es schon Werbung?
Ich sehe mich an der Stelle dieses jungen Mannes, der nun mit den Händen fuchtelt, daran zweifelnd, ob das, was da gerade von ihm gelesen wird, auch von ihm stamme. Dann mache ich ein Sandgesicht und trete ab, bevor ich geduscht werde, und muss hinter dem Vorhang langsam und laut lachen. Dann ist die Musik zuende.
Und wer den kleinen Meerjungfrauenpreis verdient und das Neue so gedacht hat, und wer die Tage der Neuen Literatur vermisst. Man kann es noch nicht sagen … Eine seltsame Überleitung. Und noch einmal wird aus einem Manifest zitiert, und eine fremde Stimme bemächtigt sich einer anderen. Eines noch fremderen Sprechens.
Und dann kommt endlich der erste Dichter. Ein schüchternes Guten Morgen. Er werde etwas aus seinem noch unveröffentlichten Schelmenroman vortragen. Seine Stimme ist verwuschelte Frisur und sein obligatorisches schwarzes Hemd hat darum pizzagrosse noch dunklere Flecken unter den Armen. Lullt etwas ein. Verpackt den als Schelmenroman gesiegelten Text in Watte und nur ein paar Schlagwort dringen aus diesem Kokon. Eine Brasilia und ein Maulwurf, der von ihr spazieren geführt wird. Er errötet sichtlich, auch die Anspannung des Publikums und der Jury ist deutlich hörbar, bei diesem etwas seltsamen Einfall. Dann wieder übertönt durch das Geraschel beim kollektiven Umblättern des Autors, des Publikums, der Jury, des kompletten Studios, das den Text mitliest und verfolgt, aus den ausgehändigten Blättern. Wort für Wort. Pause für Pause. Manchmal ein zum Hüsteln unterdrücktes Husten, man weiss nicht ob des Autors oder eines Jurymitglieds, dessen Mikrofon nicht ausgeschaltet wurde. Nein, die Frau, die er liebte hiess nicht Brasilia. Es war das Land. Oder war es der Maulwurf?
Unterbrechung. Unschöne Szenen. Das sei ja eine Katastrophe. Nicht der Text, der natürlich auch. Und nicht der Autor, der natürlich auch. Die Stimme: furchtbar. Das gehe so nicht. Das werde sie sich nicht weiter bieten lassen, eine aufgebrachte Jurorin, die nur schwer, wie ich mir vorstellen kann, von Cosima, zu bremsen ist. Das sei nun genug. Dem könne man nicht weiter zuhören. Er solle doch wieder nach Hause gehen. Er oder sie, man könne sich entscheiden. Ein Wasserglas fällt um. Ein Stühlerücken. Publikumsraunen. Unruhe. Jemand lacht. Für unsere Zuhörerinnen und Zuhörer … Der Autor sei nun gegangen, so ein Moderator, das sei schade. Seine Stimme hielte einfach nicht. Schade. Kein Siegel. Noch ein paar Worte. Der nächste bitte.
Nein, es geht immer noch um Brasilia und der Autor ist nicht unterbrochen worden. Er liest immer noch langsam und laut, wenn auch etwas genuschelt. Aber nun ist Müdigkeit da, endlich. Die Dusche warte ich nicht mehr ab, sondern schalte das Radio aus. Es stöhnt ein wenig.
Manchmal muss man rechtzeitig ein Fazit ziehen. Man muss nicht jedem Dichtertod beiwohnen. Man muss ein Gehörtes nicht immer in Bilder umwandeln. Man sollte diese Berechtigungsstile hinterfragen. Man muss auch abschalten können. Vor allem bei einem Märchen.