Dranmor VI,1c

(Drei Vögel Feuer)

Und geht wie es kam. Als Wochenende. Denn es hat Grenzen an beiden Enden. Die Grenzen mit den undichten Stellen, Öffnungen in andere Räume. Welche? Zum einen der Raum mit den zwanzig Watt: hinter Milchglas. Dem kleinen Feuer, das sich auf Verlangen, einer Drehbewegung, entzündet und wieder löscht. Und dem anderen: hinter einer unsichtbaren Mauer am anderen Ende der Woche, die sich in den Werktag schleppt, die nur eine einzige grosse Passage ist. Dazwischen: leerer Körper. Ein paar Dinge: eine Schwelle, eine Strasse, eine Bahn, die darauf fährt, ein Glockenturm, darunter ein Kiosk, an dem ich Zigaretten bekomme, die Tauben davor, die sich ihre Schnäbel am Pflaster wund stossen. Ein Tauber: zu schwer ist die Luft. Er wird mehr geahnt als geschaut. Es folgen Arkaden, dann Stufen, zuletzt die stolze Holztüre mit ihrer Messingklinke. Sie klinkt nicht. Ächzt ein bisschen unter dem Druck der Hand. Auch das Schloss stimmt dem Ächzen zu, nach einer Drehbewegung.

Die Befürchtung des Taubers stellt sich als unbegründet heraus. Die Luft im Büro hatte sich, nach dem ersten Atemzug, nicht verdichtet, aber, auf den zweiten Blick: ausgetauscht. Der Platz des Kollegen – immer noch verwaist. Die Holztäfelung der Wände scheint nun komplett erneuert. Maria? Auf ihrem Platz, auf der Mitte des Simses unter dem fehlenden Holstein-Gottorf, nun ein alter, verstaubter Holzfalke. Kitschige Buchstütze. Woher? Wohin damit? Auf die gelöschten Regale? So hoch steig ich nicht, wehrt er sich, und ich greife ihn gar nicht erst an. Maria findet sich in einem Mülleimer. Gebrochene, verholzte Blätter in einer Sosse aus Algoflash und Kugeln einer untergegangenen Hydrokultur. In einer nahrhaften Pfütze, die schon nicht mehr nährt. Die in ihrer Intensität tötet. Tote Maria.

Holstein-Gottorf ist nur noch Leerstelle und kaum mehr spürbar. Wo sind die Bücherberge? Die Zettel, die hier sonst liegen und fliegen und ihrer eigenen Ordnung gehorchen? Wo die Lexika, die Instrumente meiner Arbeit, die Ordner mit den vielen Unterlagen, die nur noch lagen, der Rollkasten mit dem Register, der Computer? Überhaupt: der Drucker?

Schritte auf dem Gang. Ich drehe mich um, schaue vorsichtig hinaus. Nur ein gerade um die Ecke gebogener Schatten. Niemand. Auf meinem Schreibtisch noch das Körbchen mit den Stiften und Schreibern, und die kleine Ablage aus zerrissenem Plastik. Und in der Mitte, im Schwerpunkt des Bildes: ein Brief. Offiziös. Gestempelter Umschlag. Ich überfliege:

Sehr geehrter Herr …  Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen … fristlos … die unten genannten Gründe … zusammen mit Ihrem Resturlaub … bitten wir Sie fristgerecht … Ihre Schlüssel bitte an den … ein Gespräch mit Ihrem Vorgesetzten möglich … Ihre Rechte … das Zeugnis per Einschreiben … Viel Erfolg auf Ihrem weiteren … die Geschäftsleitung …

Es wurde also ganze Arbeit geleistet. Nichts, fast nichts, was noch mitzunehmen wäre. Nichts zu retten. Im kleinen unter dem Sims eingelassenen Schrank vielleicht. Er sieht noch unrenoviert aus. Ich habe den Schlüssel nie aus der Hand gegeben. Wenn man es nicht weiss, man käme nicht auf die Idee, dass dort ein Schrank ist, so getarnt. Darin ein paar Mappen mit Aufzeichnungen, Kopien von Faksimiles, auch: Ein Blatt aus einer Erstausgabe. Die Drei Vögel Ferdinand Schmids, so zeichnete er damals noch. Ich packe das Konvolut eilig zusammen, rechne mit meiner sekündlichen Entdeckung. Schliesse den Raum. Packe die Schlüssel in einen Umschlag, schreibe einen Namen darauf und lege ihn vor eine Türe. Im Gang ist es ruhig. Keine Menschenbewegung auf dem Weg zum Aufzug. Muss ich mich noch verabschieden? Bei dem einen oder anderen? Eine E-Mail scheint mir unproblematischer. Nein, ich werde, um keine persönlichen Worte fnden zu müssen, das Gebäude durch den Hinterausgang verlassen. Der Aufzug hält im Souterrain. Auch dort keine Menschenseele. Ein paar Geier flattern den Gang auf und ab. Zu spät, ihr Bescheid. Immer wieder: Zu spät! Ich muss mich durch diesen Urwald aus altem Büromaterial und Aussonderungen durchschlagen. An der Müllpresse vorbei. Sie streift ein Blick. Darin: die Dinge, für die es tatsächlich zu spät war. Die Mulde ist geöffnet, und ein letzter Jagdeifer angestachelt. Ausgeschiedene Schriften, Bücher, Kartonagen. Alte Wochenzeitungen. Darunter etwas Leinwand. Eine Ecke meines geliebten Holstein-Gottorf. Er lässt sich mit etwas Widerstand hervorzerren. Entrollt sich. Man hatte ihm seinen Rahmen entfernt, ihm den Rahmen genommen, damit er fassungslos entsorgt werden konnte. So sollte er gepresst werden. Zu einer alten Matte erst, dann verfeuert.

Holstein-Gottorf wird gerettet. Zusammen mit den drei Vögeln. Draussen schlägt es acht und das Feuer muss sich andere Opfer suchen. Draussen sind Vögel zu hören. Ein Schwarm Sabias vielleicht, aus Falken, Tauben und Geiern. Der Aufzug geht und kommt und ich öffne die Türe zur Rückseite der Bibliothek. Acht Stufen, bröselnder Beton, ein halber Handlauf. Holstein-Gottorf wird enger gerollt und schmiegt sich unter meinen Arm. Ich weiss einen neuen Rahmen für ihn. Einen würdigen. An der neuerlich dunklen Stelle des Kellerzimmers gleich über dem Berg, der nicht mehr wächst, ist sein Platz.