Dranmor VIII,1b

(Ich-Funktion)

Der Vogelkäfig findet einen Platz auf dem erblindeten Fernseher. Appenzeller ist als Freund gewöhnungsbedürftig, kann aber intim werden. Un melange de 42 plantes et épices de choix lui donnent la saveur incomparable qui là rendu célèbre. Und die Tage vergehen schneller, mit ihm. Und die Alpen weniger bitter. Dass Tage vergehen ist an den Inhalten der Fenster zu erkennen, der wiederkehrenden Eintragungen des Organisationsprogramms, das sich manchmal mit einem weiteren Fenster meldet. Es poppt auf, sagt man, und hat einen kleinen, grauen Rahmen und drei bunte Knöpfe an der Oberkante, rechts.

Heute sagt es: Du hast den Einsendeschluss verpasst. Der war gestern. Ich habe ihn nicht verpasst, möchte ich korrigieren. Ich habe ihn verstreichen lassen. Damit möchte ich die Häme dieses aufdringlichen Fensters ins Leere laufen lassen. Andere Dinge waren zu erledigen, ich möchte jetzt nicht näher darauf eingehen. Aber ver – strei –chen! Hörst du? Es liegt ein Papierstapel über dem Fernseher und unter dem Käfig. Der Stapel bildet also eine Schicht zwischen diesen beiden leeren Räumen, und verhindert, dass sich diese austauschen. Inhaltlich. So habe ich mir das gedacht. Und die Schicht dazwischen voller wunderlicher Notizen, Blätter, manche verkleckert, bleiche Ausdrucke eines Nadeldruckers. Nichts haltbares. Aus der Menge des gesammelten und exzerpierten Materials hat sich – obenauf – eine weitere, dünne Schicht gebildet. Substrat, das nicht irgendwo abgeschrieben wurde. Das ich mein eigen nennen könnte. Es sind drei Blätter Handschriftliches. Zähe Prosa, die auf nichts hinausläuft, das ganze bestenfalls ein Prototyp eines Fragments und damit idealer Untersatz, der jüngst geöffneten Flasche. Seit ich einen Kiosk mit einem blinden und taubstummen Verkäufer gefunden habe, der meine Einkäufe nicht kommentiert, oder so tut, als würde er das jederzeit machen, tritt der Appenzeller nun immer zu dritt auf. Drei kleine Fläschchen in einer grüngelben Packung, auf der ein gutgelaunter, rotwangiger Pfeifenraucher in volkstümlicher Montur zu sehen ist. Gelbe Kniebundhose. Bunte Blumen am Hut. Auch eine rote Rose. Ich zerknülle die drei Seiten und werfe sie in eine Ecke. Überlege mir, ob ich den grossen Stapel gleich hinterher befördere. Man könnte aber noch die Rückseiten benutzen. Das Papier wird knapp.

Eigentlich sind eher „Dranmor`s gesammelte Dichtungen“ überflüssig geworden. Die vierte durchgesehene und vermehrte Auflage hatte nichts vermehrt.

Die Dichtkunst ist eine lange Liebe, das Jean-Paul-Zitat unter dem Titel. Was dieser mit jenem zu tun hatte, haben sollte, möchte ich gerne wissen. Warum ich mich in diesen verstiegen hatte, ist mir rätselhaft. Der gutgelaunte Appenzeller wendet ein, dass es eigentlich gleich sei, auf wessen Oberfläche man sich ausbreitete. Wo man sich breit machte. Dann zieht er an seiner Pfeife. Dann fixiert er mich wieder. Es funktioniere überall und mit jedem, nachdem er eine würzige Wolke aus einem Mundwinkel entlässt. Wie er das meine? Nun, man könne sich an allem abarbeiten, wenn man nur wolle. An allem, auch und gerade an Dingen, die man nicht schätzte oder gar verabscheute. Gerade auch du! Wer, ich? Ja, du!

Er duzt mich. Und ermahnt mich. Und spricht von Dingen, die er wohl in irgendeinem Seminar aufgeschnappt hatte. Ich muss mich nicht von einer sprechenden Schnapspackung belehren lassen. Sie büsst es mir. Ich entnehme die letzte Flasche und zerreisse den Appenzeller mitsamt Packung in kleine Schnipsel. Eine holzschnittartige Berglandschaft, daneben ein Bauernhaus, auf einem Flaschenetikett. Gar nicht urig darunter die Silhouette eines anderen Alpenbauers im Sonntagsstaat. Ich kann mich dem nur anschliessen, gibt er mir zu verstehen. Dass das Ich nun einmal funktionieren müsse. Weiterfunktionieren müsse, auch nach schwierigen Zeiten. Was er denn damit meine, und was er denn überhaupt wisse? Ganz wichtig sei es, unterbricht er mich, dass das Ich sich nicht mehr auf sich selbst konzentriere. Das könne nämlich sehr frustrierend sein und zu Kurzschlussreaktionen führen, gerade bei dir. Ist man denn nicht mehr vor Kumpeleien sicher? Ich werde von einem Sonntagsbauern auf einem Flaschenetikett geduzt und nenne es zur Strafe fortan Kerlchen. Ich nehme die Flasche und kitzele das kleine Kerlchen am Bauch. Es muss lachen, doziert aber weiter, nachdem es sich erholt hat. Es sei völlig gleichgültig, womit ich mich beschäftige, wollte ich mich überhaupt mit etwas beschäftigen, wenn ich mich nur nicht mit mir selbst beschäftigte. Kontraproduktiv, das, fügt es hinzu. Dann steigt es aus seinem Rahmen, schwingt sich in die Ecke, streicht das zerknüllte Papier glatt. Hm. Das sei aber auch bescheiden. Aber er sehe da ein Potential, und: man solle doch nicht alles gleich hinschmeissen. Und: Das wäre doch ein Anfang. Oder: man könne da vielleicht noch was draus machen. Er würde mir dabei helfen. Flink springt er wieder aus der Ecke und zwängt sich zurück in seinen nun etwas verbeulten Rahmen. Den Vogelkäfig habe ich ja auch offengelassen. Das sei eine sehr weise Entscheidung gewesen. Man würde sich sehen, verabschiedet er sich, und verstummt. Ich trinke die Flasche in einem Zug aus und werfe sie in die nämliche Ecke. Sie zerschellt an der Wand und hinterlässt einen Fleck, der gemächlich nach unten wandert.

Der Alpenbitter hat recht: der Käfig ist offen. Ich gehe zum Fenster und öffne dieses, auch, um verirrten Vögeln eine Chance auf ein neues Heim zu geben. Und er hat weiter recht, denn es ist tatsächlich egal, was man tut, solange man sich nur nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigte. Also warum nicht mit Dranmor, kommt es aus der Ecke. Wo es doch sonst niemand tut, seines Wissens. Und warum auch nicht mit ihm, war er doch nicht einmal Dranmor, sondern Ferdinand Schmid: der, der alle seine Gedichte mit Mottos versah. Grossen Zitaten. Und er, die Summe seiner Zitate. Das Kerlchen lacht, dann beginnt es gleichmässig zu atmen.

In drei Stunden ist kein Vogel gesehen worden. Nicht am Fenster oder in den angrenzenden Gärten. Der Käfig immer noch offen. Im Altglas schnarcht es. Es zieht.

Ich halte mich nicht artgerecht. Kein Wunder, dass kein Vogel kommt. Das Papageienbuch hat nur vier Seiten. Drei Seiten Vorwort, eine Seite Impressum. Vier Herbstliche Blätter. Bern sei nicht Rio de Janeiro, kommt es aus der fleckigen Ecke. Vielleicht noch einen Amaryllis? Ja, gerne, aber bitte mit Soda! Haha, Amaryllis sei nichts zu trinken, sondern eine unerreichbare Frau, aus der Ecke. Süsse, Holde Geliebte! So lange schon / unter den Veilchen schläfst du allein /. Ich schliesse das Fenster, dann sind wir ungestört. Dann sind wir ungestört. Dann ist Nacht.

Febre amarella. Ich blute noch ein wenig am Hinterkopf. Muss ausgerutscht sein, auf den Körnern. Überall. Aber fast alles getrocknet. Auch die Flecken auf dem Papageienbuch. Auf den Notizen. Der Käfig liegt auf dem Boden. Ich stelle ihn an die Wand. Der Boden voller Körner. Sie knirschen und platzen, wenn man auf sie tritt, auf dem Weg ins Bad.