Dranmor VIII,4a

(Luftlinien oder In Frieden I)

Milliarden kommen und verschwinden wieder / Im grossen All nach kurzer Lebensreise; / Giganten, Zwerge, Kinder oder Greise, / Wir sind nur einer Kette morsche Glieder. / so der Anfang von Romans Brief. Ich erkenne die Passage aus der Reisestudie. Warum er auf einmal Briefe schreibt? Und dazu Mottos findet? Er fährt fort, dass er verschwinde. Nicht für immer, nein, aber dass er nach Barcelona ziehe. Eigentlich schon dort sei, ich wisse warum. Und dass man ihn vorerst nicht erreichen könne, darum dieser Brief. Weder per E-Mail noch telefonisch. Genaueres gäbe er aber noch bekannt. Er wünsche mir alles Gute und es täte ihm leid, dass alles so schnell gegangen sei. Dass wir uns also nicht mehr sehen konnten. Er würde sich melden, wenn er wieder in Bern sei. Dann wird die Schrift nachlässig und endet in einer Unterzeichnung – eigentlich nur noch unförmige Linie. Der Umschlag wurde wohl wiederverwendet. Die Briefmarke stammt aus einem Automaten und wurde maschinell gestempelt. Mechanisch abgefertigt, am Ende weitere Wünsche und ein Maschinengruss.

Der langsame Tag vergeht über das Grübeln seiner Geschwindigkeit. Und in lustlosem Blättern. Hier und dort mit spitzen und stumpfen Fingern. Mit trockenem und wieder feuchtem Daumen. Die Anfeuchtungen und der bittere Geschmack danach. Woran es denn liege war seine zweite Frage. Aber auf einmal ganz klar: nicht woran, sondern wo es liege, muss die Frage lauten. Und weiter: dass ich nicht einmal auf den Gedanken gekommen bin. Den Naheliegendsten! Und dass das Wirklichste, das Physischste also Körperlichste – wenn es noch etwas gäbe – doch in allernächster Nähe liege. Fast greifbar, sozusagen. Das Fleisch und die Knochen, das Gerüst all der Dinge, die nicht mehr begriffen wurden. Wenn noch etwas übrig war.

Ich suche den Stadtplan und finde ihn in einem Seitental des Allerlei II, blättere hastig. Vetter hatte vom Ostermundiger Friedhof gesprochen. Von der rührenden Trauerfeier, den Grabgesängen und Reden. Das sind nur wenige Kilometer Luftlinie. Ich zeichne die Strecke mit dem Daumennagel nach. Ich zeichne eine Linie in die Luft und versuche dabei das Gleichgewicht zu halten. Der Daumennagel fährt über die Karte, hinterlässt aber keinen bleibenden Eindruck. Keine Vertiefung. Ich finde auch einen Leuchtstift.

Ich stelle den Kragen hoch. Die Luftlinie wird an einer Kreuzung unklar. Aprilnebel verwirft den Blick und Fragen auf: das Obere Galgenfeld ist verbaut. Ich muss improvisieren. Erst unschlüssig, ob Bitziusstrasse oder Ostermundiger Hauptstrasse, entscheide ich mich bald für den Schriftsteller. Dann Verwirrung durch die Strassennamen. Bilder werden aufgeworfen. Gehobener Horizont, heisst eine. Dann verlaufe ich mich in der unheilen Eile. Ein Schild am Wegrand. Die Stadtverwaltung hatte den bildhaften Sprachwahn ihres Hausmalers in die Topographie gegossen. Ich finde einen Wurm am Weg und einen Teppich der Erinnerung. Am Ende nur noch buntes Flickwerk vor Augen und die Radierung einer seltsamen Figur ohne auch nur einen Meter zurückgelegt zu haben, pflücke ich feuchten Klee am Wegrand. So feucht schon? Und so spät? Nun ist wirklich Eile angesagt. Ich erreiche den Eingang des Friedhofs kurz vor seiner Schliessung.

Es würde sich nicht mehr lohnen, man schliesse bald, gibt mir ein Wächter unfreundlich zu verstehen. Ich spute mich, entgegne ich. Und: es würde nicht lange dauern. Und ob er mir sagen könne, wo er denn liege.

Aber er kenne diesen Ferdinand Schmid nicht, und ob ich denn sicher sei. Er habe nie von ihm gehört, aber die historischen Prominentengräber lägen in dieser Richtung. Aber 19. Jahrhundert? Das sei wahrscheinlich längst aufgelassen und auskultiert, wie man das nenne. Sicher könne ich einmal schauen, um einen Eindruck zu gewinnen, aber er sehe da eigentlich keine Chance. Und dass es gleich eindunkle – man würde kaum mehr die Inschriften erkennen können, und bei den Alten sowieso nicht. Ich lasse ihn links liegen.

Eine kleine Stadt, wie auf dem Reissbrett entworfen. Wege stehen im rechten Winkel zueinander, die Zwischenräume wurden mit knorpeligen Bäumen verziert. Bald das Feld mit den Namenlosen. Bald opulente Sträusse und historisierte Steinvasen und Engel. Ein spiralförmig begehbarer Hügel eröffnet sich; an seiner Spitze eine Trauerweide. Die Kindergräber: bunter Nippes und traurige Windräder und Bären. Der wohl schlimmste Ort.

Ich erreiche das Feld der Aufgelassenen, Auskultierten und Bemoosten. Eine Hinweistafel mit der Aufschrift Erhaltenswerte Grabmäler. Hier werden künstlerisch bedeutungsvolle Grabmäler aus den Friedhöfen der Stadt ausgestellt. Sie sollen als Dokumente ihrer Zeit der Nachwelt erhalten bleiben. Bern, im Juli 1983. Die Friedhofsverwaltung.

Dieser Stein könnte es doch sein. Natürlich könnte es auch jeder andere sein, aber dieser gefällt mir besonders. Ich hole meine Feuerzeug hervor. Es ist tatsächlich nichts mehr darauf zu erkennen. Aber unter der dichten Moosschicht, die ich langsam mit blossen Fingern und Nägeln entferne, finden sich Einlassungen.