Fruchtbarkeitsgötter, Knabenliebe

(M39)

Das Buch war dick, schwarz und völlig verstaubt. Sein Einband war verbogen und knarrte; es hatte einiges durchgemacht. Der Buchrücken fehlte, das heißt, er ragte wie ein unförmiges Lesezeichen zwischen den Seiten hervor. Wie eine Mumie war das Buch um und um mit schmutzigen, einst weißem Band verschnürt, dessen Enden eine ordentliche Schleife bildeten. Der Bibliothekar händigte es Roland Mitchell aus, der im Lesesaal der London Library wartete. Es war aus dem Sperrfach Nr. 5 exhumiert worden, wo es ansonsten zwischen De priapo und Die griechische Knabenliebe stand. Es war zehn Uhr vormittags an einem Septembertag im Jahr 1986. Roland saß an seinem Lieblingsplatz, dem kleinen Tisch mit einem Stuhl hinter einem viereckigen Pfeiler, aber mit Sicht auf die Uhr über dem Kamin. Zu seiner Rechten fiel Sonnenlicht durch ein hohes Fenster, aus dem man die grünen Wipfel der Bäume am St. James Square sah.

Aus: Antonia Byatt, Besessen (1990, dt. 1993, übersetzt von Melanie Waltz), S.9