Hypertext, Random Access Novel or Not?

(Aus einer Mail von dsh, hierzu)

Lieber Hartmut Abendschein,

fuer mich ist die BibliothecaCaelestis keine Hypertextliteratur. Sie hat nichts Ergodisches, setzt nicht auf Knoten, verzweigt sich weder in Fragen noch in geheimnisvollen Tueren (es gibt ja die Gesamtuebersicht) noch in einem Zurueckwerfen auf sich selbst (eine dieser Strukturierungen waere typisch).

Das TiddlyWiki leistet hier etwas ganz anders, gaukelt ein eigenstaendiges Dokument vor, das der Lesedurchgang zu erschaffen scheint. Es erzeugt den Eindruck des Fakes einer Hypertexterzaehlung (tatsaechlich Formen akademischer Werke uebertragend), zugleich aber eine Art Dokumentation des Hypertextlesens, besser: ein Bild davon.

Zum Vergleich: Alex Schroeders (…) Rose scheint mir viel hypertextiger. Die BibliothecaCaelestis nutzt das TiddlyWiki in anderer Weise, fuer diesen Stoff, dieses Material angemessener (verzeihen Sie die altertuemlichen Begriffe, sie scheinen mir recht brauchbar fuer digitale Projekte).

Ich habe den Eindruck, hier keine Zwiebel zu schaelen, sondern Paeckchen ein- statt auszupacken, Kommentar-Text- und Metakommentarebene gehen nicht ineinander ueber, sondern ueberlagern sich im Kopf, bleiben auf dem Bildschirm an ihrem Platz. Das erhoeht sicher die Eigenleistung des Lesers, ich haette es aber anders gemacht, d.h. die Geschichte erzaehlt als Erzaehlen der Geschichte.  Lesen kann ich sie so. Vielleicht es das besser. Ich habe ja keine Ahnung vom Roman.

Denn dass es einer ist, geht nicht verloren. Spaetestens, wenn man an die Zitate geraet, wird klar, dass die Form hier den Text schuetzt. Das eigene Wort scheint (in Gruenbeins Sinne) vom fremden getrennt, random access wird nie random novel. Der Roman wird auch nicht Spiel – sondern die Lektuere. Ein Verfahren, das wahrscheinlich so manchen Printautor (anders als Storyspace) vom digitalen Text ueberzeugen koennte – wenn es noch einen anderen Einstieg gaebe, einen spannenderen. Eine Spurensuche etwa, Fragen, Raetsel, Geheimnisse, die klickbare Bibliothekskarte – und eine Loesung, die (auch wenn sie nie kommen sollte) immer dringlicher verlangt wird.

Es ist ja eine alte Frage (mehr noch der Spielentwickler als der Hypertextautoren), ob nicht gerade das Fuehren des Lesers die Aufgabe des Autors ist, d.h. wodurch der Hypertext fesseln koennte. Die BibliothecaCaelestis entzieht sich dem, indem sie sich verdoppelt, als Roman und als Material erscheint.

Ich mache nun die Erfahrung, dass es mich mehr zum Roman zieht. Um von diesem aus dann auf Entdeckungsreise zu gehen. Fuer den anderen Weg, das Stoebern und Finden und Folgen, ist der Hauptstrang zu stark. D.h. mir scheint die Form nicht offen, sondern an den Raendern erweiterbar (etwa wie Prousts Recherche).

In sich ist das alles stimmig. Sehr gut kommt die Aura einer Bibliotheksnutzung rueber, mehr als bildlich erscheint die Katalogstruktur, die stets erhalten bleibt, deutlich das Gefuehl, die Zeiten, aber nie den Ort zu wechseln (so auch Kongruenz zwischen Mittel (TW), Inhalt und Titel wahrend).

Das find ich alles hervorragend geloest. Ob ich eine zusaetzliche Verknuepfung wichtiger Begriffe in den Textteilen wirklich gut faende (ein paar Mal wuenschte ich mir das) weiss ich nicht.

Nur mit einem komme ich nicht klar: “Wie sie vielleicht wissen”. Die Funktion dieses Textes habe ich bislang nicht verstanden. (…)


(Antwort hab an dsh)

Lieber Dsh,

ganz herzlichen Dank für Ihre Rückmeldung, um die ich sehr froh bin und die mir sehr hilfreich war. Einerseits, weil ich nun weiss, dass ich da mit Begrifflichkeiten etwas vorsichtiger umgehen muss (Hypertextliteratur, random access novel), andererseits weil ich nun weiss, wo ich noch mehr feilen muss, strukturell zumindest, was nicht ganz so einfach ist.

Tatsächlich ist das ein System, in dem, wie sie unten sagten: Päckchen gepackt werden. Jeder Leser/jede Leserin ihr eigenes, umfänglich, wie inhaltlich. Und manchmal schnürt sich das Päckchen auch von alleine, weil die stets überdeterminierte Navigation (darum habe ich das zur Hypertextliteratur gedacht) den nervösen Finger anregt und dieser den Kopf umgeht. Oder vielleicht so: das Auge blättert da schneller als das Hirn da Anschluss fassen oder finden kann. Das fand ich auch das reizvolle: die Plötzlichkeit, mit der da ein Texthaufen produziert und zurechtgelegt werden kann. Ich höre das förmlich immer rascheln …

„Das eigene Wort scheint (in Gruenbeins Sinne) vom fremden getrennt” wie Sie sagen, und das ist richtig. Vielmehr reagieren da unabhängige Quellstücke aufeinander, die nur über die Oberflächen verbunden sind/wurden, thematisch, aber auch von der „Aussage” her. Es geschieht wenig Pfropfung. Stattdessen stehen da Versatzstücke, die auch isoliert betrachtet werden können oder sollen. Foucault hat da von der „Schönheit der Quellen” gesprochen, die da nur sprechen sollen und die durch einen Kommentar nur unnötig verstümmelt werden. So etwas habe ich da auch im Hintergrund gedacht.

Es gibt ja noch so viel zu tun. So auch transparenter zu machen, wie es um „Wie sie vielleicht wissen steht”. Aber vielleicht würden Sie auch darauf kommen, wenn Sie weiter im Text steckten. Gattungsmässig (die BC arbeitet mit dem absoluten Gattungssampling) steht es natürlich für Dialog und Drama und wer dieses geschrieben hat, wie und wo es sich schreibt und in die Resthandlung eingreift, das muss ich wohl noch etwas deutlicher machen. Wofür es steht: für Aussagen (im wörtlichsten Sinne) aus dem aktuellen Bibliotheksdiskurs. Tatsächlich ist dies der unfiktionalste Part. Aussagen, ja O-Töne etc. wurden von mir vielmals recherchiert, geändert, angepasst, aber sie bilden tatsächlich eine gewisse Menge an Problemen ab, in der sich die Bibliothek am Rand eines bestimmten Kulturbruchs, einer Kulturverschiebung befindet. Diesen Strang muss man vielleicht auch mal gesondert anschauen. Auch dazu ist das TW sehr praktisch. Das ineinander Geflochtene lässt sich wieder mühelos voneinander lösen. Ein Baukastensystem je nach Gusto …

Lieber Dsh. Ich arbeite da weiter dran und wer weiss, in welche Richtung sich das Projekt treibt. (…)