Ich heisse Anna

(A03 zu E06)

Lieber Benedikt,

erinnerst Du Dich? Ich weiss noch genau, was Du an diesem Tag getragen hast. Ein dunkles Cordjacket, etwas ausgeleiert, ja, aber es stand Dir gut. Ein graues Hemd, darüber einen Pollunder, wenn ich mich nicht irre. Eine Tasche aus Kunststoff hattest Du dabei, mit einem Werbeaufdruck, stark verwaschen, viel zu bunt für Dich. Und dazu Turnschuhe. Erinnerst Du Dich? Nichts passte zueinander. Durch Deine müden Augen hast Du kaum etwas zu fassen gebracht. Deine blauen Augen hinter grauem Schleier, und hinter dünnem Haar, Strähnen, Gitter, die Dich schützen sollen. Deine dunklen Haare. Du hast mich angesprochen, wie es viele taten, in Formeln, all die Ahnungslosen, denen ich zu helfen verdammt bin. Deinem Schulterspiel, Deiner Krümmung war zu entnehmen, wonach Du schautest. Ich habe mir Deine Fragen notiert, nicht die, die Du mir gestellt hast. In Zungen. Die anderen. Die Ungestellten, die Dein Körper im Raum formte. Bin ich immer im Bild Deiner Bewegungen. Deiner Anschläge. Ich kann sie alle sichtbar machen. Zeichne sie auf und verwalte. Ich zeichne viele Dinge auf, die sie machen. Die meisten. Du wirst noch sehen. Transkriptionen. Gespräche. Kaum etwas, nichts entgeht mir. So ist das. Gibt es kein Mehr oder Weniger der Wichtigkeit. Bekommst auch Du zu spüren. Nur die Tatsache, dass man sie wichtig nimmt. Die Fragen. Deine Haare. Ist mir nicht entgangen, dass Du sie verlierst. Wünsche werden weniger aber bestimmter. Ausdrücklicher. Dinglicher wie der silbergraue Streif Deiner Wangen. Zu Papier gebrachte. Auch die habe ich mir angeeignet. Wie alles andere, das Du geschrieben hast. Das Verlorengeglaubte. Gegangene. Das, wovon Du Dich getrennt zu haben glaubst, schweren Herzens oder mit Freude, und das, was noch unterwegs ist.

Nun wirst Du immer deutlicher. Man hat Dich umfänglich abgelegt. Erschlossen und archiviert. In einem säurebeständigen Karton. Mittelfristig. Hat noch aus den Letzten Deiner Merkmale Zahlen gemacht. Mein Benutzer, sagen sie hinter vorgehaltener Hand. Man weiss genau, wo Du Dich aufhältst. Jederzeit. Was Du isst. Mit wem Du sprichst. Mein Gläserner. Zerbrechlicher. Durch Deinen Brustkorb kann ich Dein Herz schlagen sehen. Folge Deinem Atem, wie er die Lungen füllte und sich verteilt ins kapillare System. In die Adern unter Deiner Haut. Deinen Stoffwechselprozess. Schon bist Du ausgeliehen, nur wenige Stunden, die es Dich gibt. Kennt jeder Deinen Namen. Vergiss das bitte nicht. Man speichert, was Du speicherst. Man verdoppelt Dich. Dann ruft man Dich bei Deinem Namen.

Ich heisse Anna