II Materie, Material, Materialität (Zu den Rahmenbedingungen)

Kannst Du uns die Genese der Mehrstufigkeit des Projektes erläutern? Welche Schwierigkeiten ergaben sich nach dem theoretischen Entschluss in materieller Umsetzung? (sru)

Das Warum. Die Frage nach dem Antrieb von bewusst handschriftlicher Textproduktion als Experiment, scheint mir also einigermassen geklärt. Das Was dagegen stellte schon vor schwierigere Entscheidungen. Einerseits sollte eine Schrift entstehen, die ihr Wesen nicht (nur) abgelenkt von ihrer inhaltlichen Reflektion entfaltete. Zudem sollte sie auch Inhaltliches zur Handschrift mit einschliessen, also gleichzeitig auch ihr Thema benennen und untersuchen. Da die Anordnung der eines Selbstversuchs entsprechen sollte, wollte ich auch Elemente des Selbst („Ichschrift“) in Form von biographischen Äusserungen (Biographemen) verarbeiten, die gewissen narrativen Strategien, wie z.B. bestimmten ästhetischen Kategorien einer kleinen Form, gehorchten.

Schon waren zwei Schreibansätze und –anlässe entstanden. Der thematische Zugriff musste also aufgrund der Beschäftigung mit Schriften und Sekundärliteraturen hierzu geschehen. Hier gingen Recherchen voraus. Jüngere bis ältere Literatur zum Thema aus unterschiedlichsten Wissensdisziplinen wurden zusammengetragen (5), begutachtet und auf Referenzstellen hin gelesen. Signifikante Exzerptstellen wurden festgelegt, die als Vorlage zu einer Abschrift hergenommen werden sollten. So konnte in einem Gang das Thema zumindest breit und an der Oberfläche angeeignet werden. Gleichzeitig wurde aus der Abschrift ein erster Teil einer Ichschrift-Einheit (eines Kapitels, einer Probe, wenn man so will: als Zünder oder Initial/Initiant). Der als eher narrativ gedachte Teil, der sich mit Biographemen beschäftigen sollte und ein Schreiben „aus dem Bauch heraus“ befördern sollte, versucht dabei einen Impuls aus dem ersten Teil zu übernehmen.

Eine wie auch immer geartete Quintessenz oder Assoziation aus der Abschrift, die auf einen intimen, privaten Bereich oder ein Ereignis verwies, sollte also immer einen Schreibprozess auslösen, in dem Erinnerungen, Rekonstruktionen oder Anverwandlungen miteinbezogen wurden. Daraus sind nicht immer Erzähl- oder Erinnerungstexte geworden. Bewusst wurde zugelassen, dass ein Biographem sich auch in anderen Textsorten oder –formen (Listen, Verdichtungen, Analysen, sprachlich heterogenen Passagen) äussern oder materialisieren konnte.

Ein weiterer, dritter Teil eines Ichschriftexemplars oder –kapitels, sollte sich explizit um das Schreiben in Verbindung mit reflektorischen oder sublimatorischen Prozessen kümmern. Dabei wurden die ersten beiden Teile (Die Abschrift, die Ichschrift) hergenommen und versucht, diese in irgendeiner Form zu kondensieren, zu abstrahieren oder sonstwie verdichtet ineinander zu legen. (Kurz habe ich mir überlegt, dies „die Umschrift“ zu nennen). Aufgrund dieser drei Um- und Vorzustände von Textproduktion wollte ich ein kleines Spektrum an Produktionsvorzeichen erzeugen, das überhaupt eine systematische Produktion sicherstellen konnte und gleichermassen gewisse inhaltliche Fäden, an die angeknüpft werden konnte, generieren bzw. auslegen.

Schon bei der Planung dieses Dispositivs kam die Überlegung, da die Ergebnisse auch digital verwertbar sein sollten, die Schrifterzeugung und –abbildung mit aktuell gängigen Möglichkeiten in Angriff zu nehmen. Nach diversen Tests mit Scannern, Softwares und digitalen Notizblöcken, wurde festgelegt, dass aufgrund von breiteren, auch theoretisch offeneren Anwendungsmöglichkeiten ein digitaler Notizblock (DN) ein gutes Urmedium der Niederschrift sein konnte.

Im Laufe dieser Überlegungen und nach weiteren Tests kam dann noch der Einfall, eine weitere Eigenschaft solch eines DN zu nutzen, der der Schrifterkennungsoption. Also wurde dem strukturellen Apparat einer Ichschrifteinheit auch noch eine vierte Dimension zugestanden, nämlich die der automatischen Lektüre und Schrifterkennung (folgend OCR, weitere Überlegungen dazu auch unten). Nach jeweiliger Verschriftung der drei Teile sollten diesen also als digitaler „Druck“- oder Typotext eine automatische Schrift gegenübergestellt werden, die aber freilich auf einem anderen Schreibprozess fusste. Vor Nutzung des OCR-Programms musste ein Schriftabgleichprozess durchlaufen werden, der die Software mit meiner Handschrift in einem gewissen Grund- oder Nullzustand vertraut machte und festlegte. Somit ist also in jedem Kapitel oder jeder Ichschrift-Gesamteinheit eine Struktur aus den Elementen Abschrift, Ichschrift, Umschrift und OCR angelegt.

Erst viel später, also nach Beendigung der Manuskriptherstellung wurde entschieden, dass dieser Vierteiligkeit, auch aus Gründen eines Lektüreangebots auf konventioneller Basis, eine Art „gesetzter“ Text gut täte. Dieser sollte das Ergebnis und Produkt der jeweils stattgefundenen Prozesse in sich aufnehmen und als poetisches Amalgam im wörtlichsten Sinne und in Form einer Transkription für sich lesbar sein. Diese Transkripte wurden als Einheit und Anhang hinter dem Manuskriptteil platziert.

Ich habe hier zunächst einmal versucht, nur die wichtigsten technischen-theoretischen Rahmenbedingungen zu benennen und ein paar Fragestellungen für kommende Überlegungen aufzuwerfen, die sich teilweise und auch erst während des Schreibprozesses (des Manuskripts) oder gar danach aufdrängten.

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(5) vgl. auch die Bibliographie im Anhang. Die Systemnummern dort verweisen dabei auf jene im Online-Katalog des IDS Basel-Bern, http://aleph.unibas.ch/