Im Schatten des Körpers des Kaders
(E14)
Röhrling konnte ihn ein wenig beruhigen. Nieder mit der Aufregung, war eine seiner Ansagen. Es gab tausend Gründe für das plötzliche Verschwinden Annas. Und tausend mehr, sich deswegen nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Denn, was wollte er eigentlich?: eine geschätzte Verbindung, die auf keinerlei Verpflichtungen, denn auf theoretischen Austausch beruhte, die sich nicht aber auch praktisch in Luft auflösen konnte das wäre wohl doch des Guten zuviel und sehr wahrscheinlich für Benedikts Vorankommen denn auch eher schädlich als nützlich. Er sollte es einfach als etwas Gegebenes hinnehmen. Nun war bei ihm sicherlich kein Handlungsbedarf, geschweige denn Schuld für dieses Verhalten, wenn es denn überhaupt ihr eigenes war, zu suchen. Regen Sie sich also bitte wieder ab! Kommen Sie doch lieber wieder einmal bei mir vorbei und erzählen Sie mir etwas Neues. Gerade ist mir ein feiner Portugiese angeliefert worden. Ein Messeschnäppchen. Den sollten wir unbedingt zusammen verkosten.
Was Benedikt an Röhrling so schätzte, war sein Sinn fürs Praktische, der ihm zugegebenermassen selbst des öfteren abging. Er tat also, wie von ihm vorgeschlagen, wartete noch zwanzig Minuten und war dann bereit, die Reste des Picknicks und alles andere, was sich mittlerweile über die Bank verstreut hatte, zusammenzupacken. Der Augenblick war auch von der Rückkehr der Gassenküchler begünstigt, die nun wieder genährt und voller Tatendrang an das Örtchen zurückkehrten, sodass die Szene alsbald wieder unübersichtlich wurde.
Annas Sandbuch, wie er hoffte, war tatsächlich nicht in der Tasche, stellte er fest, als er diese ein weiteres Mal auf den Kopf gestellt hatte. Und auch beim zweiten Blick in den Ordner wurde er nicht besonders schlau aus seinem Inhalt, den er aber doch noch einmal etwas genauer unter die Lupe nehmen wollte. Ausdrucke von E-Mails, ganzen Konversationssträngen, Sitzungsprotokollen, Dokumente eines Unternehmensstrukturwandels, wie es hiess, aber kaum zuzuordnen, um welches es denn da ging. In fast allem herrschte ein aseptischer Ton vor, der jedwede Konkretion verunmöglichte, so zumindest für ihn als Aussenstehenden. Allerdings gab es bisweilen wie eingestreute Korrespondenzen, die mit dem Gesamt der Unterlagen kaum etwas zu tun haben konnten. Eine rührige Absenzmeldung. Ein privater Rücklauf, der den Fund eines Geldbeutels auf einer Damentoilette annoncierte. Ein komisch gedachtes Schreiben, das auf eine Fussballwette verwies. Eine Entrüstungsnotiz, die forderte, mit persönlichen Anliegen sollte doch nicht eine ganze Division behelligt werden. Meldungen und Abmeldungen von Unbotmässigkeiten der Systeme. Kaputte Telefone. Abzugebende oder zu verschenkende Materialien. Es war für ihn ein unsortiertes Gros, ein durcheinander von Geräuschen zweier Welten, die sich da wechselseitig, nolensvolens durchdrangen in dieser Räumlichkeit, aber kaum dieselbe Sprache sprachen, Parallelgesellschaften, die nur ab und zu aufeinander zeigten, und dieses: nicht völlig frei von ironischen Kadenzen, wie Benedikt zu spüren meinte.
Vereinzelt jedoch waren Abschnitte und kleinere Elemente der einen wie anderen Welt mit Leuchtstift markiert worden. Und diese betrafen Stellen, so las Benedikt bald heraus, die seltsamerweise nie der Kern einer Aussage betonten, sodass man in deren Bearbeitung wohl weniger eine rationalisierende Massnahme erkennen durfte, sondern die höchstens in einer phrasalen Art und Weise auffällig waren, die den sie umkreissenden Gegenstand lediglich zu wittern verstanden, diesen aber niemals zu benennen gedachten. Was war mit so einer Arbeit bezweckt worden. Worauf hatte man hier geachtet? Was hatte sich Anna dabei gedacht, wenn es sich hierbei überhaupt um ihre Blattsammlung handelte?
Seis drum. Benedikt hatte gelernt, sich nicht allzu lange an solchen Steinbrüchen aufzuhalten sie konnten alles bedeuten. Und nichts. Er würde sich dieser, um sich von der Last der Hinterlassenschaft zu befreien, wie angeraten an Annas Arbeitsplatz entledigen und dann, worauf er sich nun doch etwas freute, mit Röhrling einen heben.
Schon von weitem konnte er erkennen, dass etwas nicht in Ordnung war. Benutzer verliessen mit hängenden Köpfen das Haus durch das Portal. Die Rauchergruppe stand verdoppelt und wild gestikulierend um einen Mülleimer, und verstopfte wie ein Gerinnsel den Laubendurchgang vollends, sodass Benedikt diese umgehen und von einem anderen Flügel her angreifen musste. Es war beinahe unmöglich gegen den Strom der Abgänger anzukommen die Besucher wurden von einem irritierten Personal hinausgebeten und geleitet, und er durfte auch nur zurück ins Gebäude, weil er auf die Frage, wie er seinen Zugang rechtfertigen wollte, mit dem richtigen Passwort bestätigte.
Noch einige wenige kamen ihm im Treppenhaus entgegen, gestützt, tastend an den Handläufen dunkel war es, und die elektrische Versorgung offenbar unterbrochen. Von den höhergelegenen Stockwerken brummten und tuckerten die Notstromaggregate. Diesel lag in der Luft, meinte Benedikt zu riechen, und zog sich sogleich ein Taschentuch und hielt es vorsorglich vor die Nase. Im Katalogsaal herrschte dagegen Hochbetrieb. Die Angestellten flitzten, wie von unsichtbaren Mächten gesteuert, mit Mundschutz durch den Raum und machten sich an den Terminals zu schaffen oder versuchten die Übriggebliebenen, die sich krampfhaft an Zettelkästen festklammerten erst freundlich, dann unter Einsatz sanfter Gewalt das Haus zu verlassen zu bewegen.
Bitte kommen Sie morgen wieder oder in den nächsten Tagen. Wir haben hier ein Problem. Dabei fühlte sich Benedikt scharf von hinten unter die Achseln gefasst und so zur Umkehr bewogen von zwei kräftigen, jungen Männern in Securitymontur. Sein Ansinnen prallte an dieser Firewall sang- und klanglos ab und nur die Versicherung, eine Angehörige halte sich hier auf und war zu retten, lockerte den komplexen Griff, aus dem er sich schnell winden und in Richtung Backoffice stürmen konnte. Die Kerle liessen von ihm ab und gingen auf ein anderes, nähergelegenes Ziel über.
Annas Türe war verschlossen, und auf sein Pochen: keine Reaktion. Resigniert überlegte sich Benedikt, wo er denn nun die Fundsache loswerden oder absondern konnte. Wie kann ich Ihnen helfen? Der Abteilungsleiter war aus einem Schatten an ihn herangetreten. Sie sollten doch eigentlich gar nicht hier sein. Wir müssen sofort das Gebäude räumen. Kommen Sie! Wir haben hier eine Störung. Überrascht versuchte Benedikt Annas Tasche hinter seinem Rücken zu verbergen. Das ist doch! Diese Tasche kenne ich doch! Das Abteilungsleitergesicht verzog sich zu einem finsteren Fletschen. Geben Sie das sofort heraus! Hallo!
Die Uniformierten wurden auf die Szene aufmerksam. Ein Dieb!, hallte es. Dann wurde ihm die Tasche von hinten entrissen.
Es tut uns leid. Wir müssen diese Angelegenheit melden. Wenn Sie sich bitte ausweisen. Benedikt machte Anstalten in seiner Jackentasche zu suchen, holte aber dabei mit aller Kraft aus, stiess dem einen in die Magengrube und setzte ihn ausser Gefecht. Als der andere eingreifen wollte, aber in ungünstigem Winkel und durch die Körper des darniederliegenden Kollegen und Kaders schwer beeinträchtigt war, nahm Benedikt die Beine in die Hand und bahnte sich den Weg durch das fiebernde und wimmernde Getümmel. Vielleicht hörte er auch noch hinter seinem Rücken: Lasst ihn laufen.