Ladungen I – Freiheiten

(Materialien zu DTmF, reines Erzählen)

Während es der tiefenpsychologisch orientierten Literatur um Sinn und lebensgeschichtliche Bedeutung, der naturwissenschaftlich orientierten Literatur um Entstehung und physiologische Lokalisierung von Träumen zu tun ist, geht es Dichterinnen und Schriftstellern ausdrücklich um anderes: Sie machen sich den Traum praktisch zu Nutze in Gestalt fiktiver Traumtexte. Die ihnen aus eigener Erfahrung und dem Wissen ihrer Zeit bekannten Traumverfahren inspirieren sie zu Entdeckung und Entwicklung bisher unerprobter Erzählmöglichkeiten. Franz Fühmann, einer der schreibenden Traumexperten, bekennt, dass er in seinen Traumerzählungen nicht etwa ein flüchtiges, unlogisches Irrlicht der Phantasie suche, sondern vielmehr “eine Möglichkeit reinen Erzählens, Fabulierens, weg vom Beschreiben und Essayisieren”. (…) Autorin und Autor geben mit der Bestimmung eines Textes als Traumtext in der Regel gleichsam eine Leseanweisung: Es gelte die Freiheit von Erzählkonventionen zu genießen, das ungegängelte Wirken der Imagination, das auch Gattungs- und Tabu-Grenzen zu überschreiten vermag.

in: Gidion, Heidi: Phantastische Nächte. Traumerfahrungen in Poesie und Prosa. S.8f. Göttingen, 2006