Welche Möglichkeiten der Textbearbeitung (Exzerpierung, Filterung, Modifikation, Transformation) gibt es? Zufälligerweise lese ich gerade in einer Neuauflage von John Cages Empty Mind. Die dort sattsam aufgeführte Erprobung des Schreibens von Mesosticha (1) macht Lust, dieses Verfahren auch einmal zu erproben. Weitere Recherchen führen zu Cages Arbeiten mit literarischen Vorlagen, die durch gewisse algorithmische Behandlungen transformiert wurden. So lese ich beispielsweise folgendes:
1979 realisierte John Cage am IRCAM Paris und im WDR Köln das radiophone Hörstück “ROARATORIO, an Irish Circus on Finnegans Wake” für Sprecher, irische Musiker und 62-Spur Tonband. Nachträglich erstellte er die Verbal-Partitur “CIRCUS ON, means for translating any book into a performance without actors, a performance which is both literary and musical or one or the other” (1979), nach der die in ROARATORIO verwendeten Verfahren auf jede literarische Vorlage übertragen werden können. (2)
Wie wäre es also solch ein Verfahren einmal an einem anderen Text auszuprobieren? Dieses eventuell weiter zu entwickeln und andere, neue aber auch bekannte Instrumente der Textbearbeitung anzuwenden und das Ergebnis vielleicht sogar in eine zeitgenössische multimediale Installation zu überführen?
Cages Verfahren mit dem Titel CIRCUS ON
wurde also auch anhand Alfred Döblins Roman “Berlin Alexanderplatz” von 1929 realisiert. Der Titel lautet “Urban Circus on Berlin Alexanderplatz”. Eine einfache Blaupause des Produktionsverfahrens, die sogenannten Anweisungen finde ich im Internet, ebenfalls auf den Seiten von Volker Straebel (3).
Es sind aber demnach noch einige weitere Operatoren nötig, um z.B. einen neusachlichen Prosatext zumindest formal – in einen poetischen zu verwandeln.
Es folgt Cages Regel für ein “unvollkommendes” oder 50% Mesostichon: “Ein Mesostichon wird erstellt, indem man das erste Wort des Buches sucht, das den ersten Buchstaben der gewünschten Mittellinie enthält, ohne dass ihm der zweite Buchstabe der Mittellinie im gleichen Wort folgt. Der zweite Buchstabe gehört in die zweite Zeile und wird in einem Wort gefunden, das danach nicht den dritten Buchstaben der Mittellinie enthält, usf. […] Andere, die so ausgewählten unmittelbar umgebende Wörter […] des Originaltextes können nach Geschmack hinzugefügt werden”, sie dürfen jedoch nicht die oben aufgestellte Regel verletzten.
Um den Text weiter zu kürzen werden die Silben, die die Mittellinie kreuzen, in dieser Position nur einmal verwendet. Dies führt zur zunehmenden Verdichtung des Textes zum Ende hin, weil immer mehr Silben aufgebraucht werden und weniger Wörter für die Mittellinie der Mesosticha in Frage kommen. Sollte ein Mesostichon am Ende eines der Bücher des Romans unvollständig bleiben, wird es mit Material vom Beginn des jeweiligen Buches zu Ende geführt. (4)
Weitere Hinweise zum Verfahren und auch Cages Theoriearbeit sowie Anwendungsbeispielen, die hier aber nicht zu weit ausgebreitet werden soll, da dies eine eher praktische Arbeit werden soll, finde ich auch in einem einführenden Aufsatz mit dem Titel Mesosticha (mesostics) (5).
Aus dem Gesamttext generiere ich nach diesem Verfahren 61 Mesosticha.

(Screenshot, Excelliste: Auszug Silbenliste (Orte, Töne, Namen ff.))
Weitere Fragen / Stichwörter:
Max Bense, Reinhard Döhl etc. Was hat die Stuttgarter Schule mit diesem Ansatz zu tun?
Zu Cage: Mathematische Verfahren der Texterzeugung -> Variation
-> Ästhetik (des Mathematischen?), Dodekaphonie, Schönberg et al.
Aufstellung im Kreis, Neue andere Klänge, Harmonien
Cage-Text: Nach Cage wäre dieses Verfahren auf jede lit. Vorlage anwendbar. Auch auf pragmatischen Kommentartext?
Der Tour-Text (Kommentartext) als lit. Text?:
Schilderung von Beobachtung unter dem Einfluss illusionistischer Komplizenschaft
Rhapsodische Narration
Cage-Algorithmus (ist es Algorithmus zu nennen?): um Text zu transzendieren, um ihn haltbar zu machen (da spezif. Text nur saisonal und flüchtig.)
Namenslisten (=Bewegung): Personifikationen von Bewegung: Schein-Individualität, nicht nur Funktion von Menge
Ortsliste (=Raum), ebenso: Konkretisierung (Odysseus, Odyssee),
Epos, episches Erzählen
Mesosticha: horizontale und vertikale Semantik
Diachrone (Semantik entwickelt sich im Laufe der Zeit, div. Zeichenkette)
und synchrone (starre Zeichen Kette, die Bildlich strukturiert)
Formal: nicht natürliche Dichte des Gedichts -> aleatorische Dichte
Neuer Sinn in altem (vorgegebenem, gesprochenem) Text
Methoden: Zusammenzug aller 61 Mesosticha zu 1 Fliesstext? (Epik)
Namen und Orte (6):
Namensliste: Bewegung (sich bewegende Personen)
Ortsliste: Raum
Text (Stimmen 1 und 2): Zeitl. (diachrone) Semantik
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1 http://de.wikipedia.org/wiki/Mesostichon
2 http://www.straebel.de/praxis/index.html?/praxis/text/t-urban_circus.htm
3 Die Partitur besteht aus sieben Anweisungen:
1. Auswahl eines Buches.
2. Verdichtung des Ausgangstextes nach einem algorithmischen Verfahren (Mesosticha). Tonaufnahme der Lesung dieses Textes. Die einzelnen Kapitel werden durch Pausen voneinander getrennt.
3. Erstellen einer Liste der im Buch erwähnten Orte.
4. Erstellen einer Liste der im Buch erwähnten Klänge.
5. Tonaufnahme von (3) und (4). Diese werden entsprechend ihres Auftretens im Originaltext zeitlich an dem verdichteten Text ausgerichtet. Zufallsoperationen bestimmen a) Stereo-Position, b) Dauer, c) Einschwingvorgang, d) Lautstärke, e) Ausschwingvorgang.
6. Tonaufnahmen zweckdienlicher Musik („relevant music“) oder komponierte Variationen dieser Solos werden zu einem zufallsbestimmten Circus überlagert. Jeder (Solist? Plattenspieler?) hat wenigstens doppelt so viel Stille wie Musik.
7. Erstellen eines Mehrspurbandes aus dem erzeugten Material. Wiedergabe über ein Stereo-System oder in anderer Form, so dass die verschiedenen Schichten in beliebiger Kombination hörbar werden. (2) und (6) können auch live aufgeführt werden.
Der gesprochene Text besteht aus 120 zwölfzeiligen Mesosticha. Das sind Gedicht-Strophen, in denen die in der Versmitte stehenden Buchstaben von oben nach unten gelesen ein Wort oder einen Satz ergeben. Diese Mittellinie lautet hier “Alfred Döblin”. (Cage verlangt den Namen des Autors oder den Titel des Ausgangstextes. Wegen des in “Berlin Alexanderplatz” auftretenden sehr seltenen “x” fiel die Wahl auf den Namen des Autors). Mehr: http://www.straebel.de/praxis/index.html?/praxis/text/t-urban_circus.htm
4 Ebd.
5 In: Aesthetik und Komposition : zur Aktualität der Darmstädter Ferienkursarbeit / Hrsg.: Gianmario Borio, Ulrich Mosch. S. 7ff. – Mainz [etc.] : Schott, 1994
6 Bei Cage spielen zusätzlich Geographika und Geräusche im Primärtext eine Rolle. Diese werden also speziell ausgewertet und fliessen zusätzlich in dessen Performance ein. Recycling Le Tour de France wird diese Überlegung aufgreifen, aber in einer anderen Form umsetzen.