Röhrling

(E1)

Das Treppenhaus verströmte noch den gleichen Geruch, wie schon vor Jahren. Auch die einzelnen Stufen zeigten sich sorgfältig gewachst und gebohnert, und Handläufe und Wände in mehr als passablem Zustand. Man hatte dem Haus weiterhin eine gewisse Pflege angedeihen lassen, was immer seltener wurde, bei den in die Jahre gekommenen Dingen. Lediglich die Bildmotive in den halbedlen Rahmen über den Absätzen zwischen den Stockwerken waren ausgetauscht.

Als Benedikt das letzte Mal hier zu Gast war, so erinnerte er sich, hingen dort noch Portraits ihm unbekannter Personen aus einem vergangenen Jahrhundert, die diesem Gebäude auch im Innern den Schein einer Bewohntheit bescherten. Nun fand er abstrakte Landschaften vor. Stille Seen. Berge. Einzeldarstellungen wie Fallstudien von Kräutern und Pflanzen, die ihm dennoch vertraut vorkamen. Die sich in ihren Symmetrien an Urpflanzen orientierten.

Auch an das Knarzen der letzten Stufe erinnerte er sich. Man hatte es ihr nicht ausgetrieben, sondern dieses wohlwollend übernommen ins angenehme Dunkel des jetzigen Aufstiegs.

Noch dieselbe in Porzellan gefasste Klingel befand sich links neben der Eingangstüre, und eine nur kleine Veränderung am Türschild liess Aufschlüsse zu über ein verwehtes Jahrzehnt. Über „Röhrling & Partner“, wie da stand, und der Partner, den er allerdings nie zu Gesicht bekommen hatte, durchstrichen aber umso präsenter, was Benedikt allerdings darauf zurückführte, dass wohl alles Durchstrichene, das uns unter seinen Strichen anzublicken sucht, ein grosses Mehr an Aufmerksamkeit abrang.

Die Klingel gab nur einen einzelnen, behaglichen Ton von sich. Eine Idee zu lang und verunsichernd, ob man denn nun nachfassen musste, so liess er ein paar Momente verstreichen und lauschte, ob denn noch einmal nachzufassen wäre und ob sich etwas in der Wohnung tat. Gerade als er sich anschickte, sie noch einmal zu betätigen, hörte er ein Herein! und Die Türe ist offen!

Röhrling lag ausgefächert auf einer abgewetzten Couch in seinem Arbeitszimmer und hielt einen Cognacschwenker in der Hand. Der Qualm einer vor sich hin schmauchenden Zigarette verband sich mit dem durch einen Vorhangsspalt eintretenden Licht zu einem Schleier aus wabernden Kreisen und Figuren, die Benedikt mit ein paar schnellen Handbewegungen auflöste, um sich dann auf einem Sessel neben Röhrling niederzulassen.

Die Geschäfte. Die Geschäftegeschäftegeschäfte, wiederholte er. Und: Arbeit. Arbeit ohne Ende. Alle hätten Arbeit. Ohne Ende. Und einige ein Einkommen. Die wenigsten aber ein Auskommen. Dann räusperte er sich über den misslungenen Scherz. Er zeigte auf die Manuskriptstapel auf und unter seinem massiven Schreibtisch. Ben, so nannte er ihn schon wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung, und so nannte er ihn wieder. Ben. Was kann ich für Sie tun? Was treiben Sie denn so? Um Sie ist es still geworden.

Benedikt erzählte ihm in aller Kürze, was er die letzten Jahre getrieben hatte. Privatier?, lachte Röhrling. Sie Glücklicher. Und nun ist es verbraucht? Das Erbe, meine ich. Nein, gab Benedikt zu, obwohl es schon etwas übersichtlicher geworden war auf seinen Konti. Doch an eine Erwerbsarbeit, wie man es überall so nannte, müsste noch nicht gedacht werden. Er wäre also nicht des Geldes wegen da. Sehen Sie sich um, unterbrach ihn Röhrling, hier schauts auch nicht aus, als gäbe es etwas zu holen. Tatsächlich bemerkte er jetzt erst, dass sich Röhrlings Inventar in bedauernswertem Zustand befand. Als könnte ich Ihnen etwas anbieten? Oder sind Sie nur hier, um mit mir auf die alten Tage anzustossen? Nun hustete Röhrling, zerrte ein Stofftaschentuch an einem Zipfel aus seiner Hosentasche hervor und spie dort den Auswurf wenig dezent hinein. Dann schob er das Taschentuch wieder an seinen Ort zurück.

Ein weiteres Buchprojekt? Einen Zweitling? Sie haben ja Nerven! Hören Sie, Ben. Ich mag Sie. Und ich habe Sie lange unterstützt, sagen wir: Wir haben es miteinander versucht. Und eigentlich erfolgreich, wenn man eine potentielle Vermittlung schon als Erfolg verbuchen möchte. Benedikt unterbrach ihn. Er wusste, was jetzt kommen würde, und er wollte nicht noch einmal die ganze Geschichte des Romans, seines ersten Romans wiederkäuen. Ich habe es damals verpatzt, ich weiss. Aber die Bedingungen! Es gab da Grenzen. Vielleicht sehe ich das heute etwas anders.

Wegen eines kleinen Kapitels, Mensch Ben! Röhrling ächzte, als er sich langsam erhob, dann nahm er einen grossen Schluck aus seinem Glas und zündete sich eine weitere Zigarette an.  Den Filterstumpf der ersten schnippte er beiläufig in den Bauch des Aschenbechers und schlug in der gleichen Bewegung mit seiner flachen Hand auf den Tisch. Zum Donner noch mal! Ich könnte mich heute noch …, dann strich er sich durch sein gelbgraues Haar.

Es ging einfach nicht. Hätte ich es so umgeschrieben, wie von mir verlangt, sie hätten es mit Kusshand genommen und wir beide sässen heute ganz woanders. Aber es ging nicht.

Ihren Idealismus, junger Mann, ich kann ihn mir einfach nicht mehr leisten. Idealismus? Benedikt nahm das Angebot eines Glases an und schwieg. Eine Zigarette lehnte er jedoch ab. Es hätte sein Gegenteil bedeutet. Es hätte dafür gestanden, wogegen ich geschrieben hätte, fügte er nach einer Weile hinzu. Um Geld zu machen, hätten Sie’s unter Pseudonym verkaufen müssen. Und Sie hätten mich nicht wieder gesehen.

Nun sind Sie aber wieder hier, schmunzelte Röhrling, und sicher wollen Sie mir von einem neuen Vorhaben berichten. Oder ist es etwa nicht so? Sie haben da also wieder eine Idee. Heraus mit der Sprache! Dann schenkte er sich und seinem Gegenüber die Gläser unanständig voll und liess etwas Luft durch die Balkontüre herein.

Benedikt glitt langsam, unschlüssig suchend mit seinen Augen über die gefüllten Regalreihen, die wie verblichene Streben fast vollständig die Wände des Zimmers überlagerten. Zum ersten Mal während ihrer Unterhaltung lehnte er sich etwas zurück.