Sphaera

(B07 zu M07)

Aber als Georg die Augen aufschlägt, befindet er sich gar nicht, wie von einigen Seiten behauptet und noch vielen weiteren bestätigt, etwa in ein Insekt verwandelt. Sein Körper scheint nach einer ersten gründlichen Inspektion geradezu in topform, und Georg muss sich zunächst ein wenig den Stolz von den Wimpern wischen. All seine Trainings- und Trennkostprogramme beginnen nun Wirkung zu zeigen, und er: wieder auf dem Rückweg der Fallfleischgeraden in Richtung Jugend, körperlich.

Und auch die Haut: glatter. Und das Lächeln: fester, erfolgreicher, vielseitig einsetzbar, selbstbewusst und gelungen. Und die greisen Eltern: nahezu versorgt. Und die Geschwister: in einer anderen Stadt. Wo waren sie gleich? In Wanne-Eickel?1 Und der Hund wieder folgsam und das Drama mit P.: ausgestanden. Und so weiter.

Und dennoch erscheint es ihm heute morgen, nein, ist es: unmöglich. Das Bett zu verlassen und ein Tagwerk zu beginnen. Denn jetzt muss er feststellen: das Tagwerk wurde schon von einem Anderen vollbracht. Und weiter: Kein Tagwerk – weit und breit. Nirgends. Nicht in der Ferne und auch nicht neben oder unter seinem Gestell.

Die krampfhaften Bemühungen auch ein nochsokleines Problem zu erinnern, das ihn zu einer Lösung bemüssigen könnte, schlagen allesamt fehl. Auch ein zu konstruierendes liegt nicht im Bereich seines Zugriffs, wie er bald einsehen muss. Ja, sogar ein fehlender Knopf, wie er noch vor dem Einschlafen feststellte, hat sich über Nacht wieder angenäht.

Erst in diesem Moment beginnt er langsam das volle Ausmass der Kompromisslosigkeit seiner Situation zu begreifen. Der Schlafzimmerspiegel steht wohl in einer sehr eigentümlichen Wölbung an der Wand. Mag man da noch von einer Wand sprechen? Georg fällt das Wort Kreissaal ein, denn er befindet sich offensichtlich in der exakten Mitte eines kreisrunden Saales. Aber, Wortbetrug: kein Kreisen, kein Schmerzakt, keine Geburt, keine Hervorbringung, auch wenn es sich nun zwischen seinen Schenkeln zu bewegen beginnt. Auch Decke und Boden passen sich nahtlos in das Bild. Der Raum verweigert Zylinder zu sein und glättet seine Kanten, oben und unten, verschleift und wölbt auch dort, wo einmal Winkel waren. Wo immer Georg nun hinzuschauen versucht, um seinen Blick zu ankern, wird er auf sich zurückgeworfen. Aber einmal fällt sein Blick kurz dahinter: ins Jenseits der werdenden Kugel. Und er vermutet mit einiger Zuversicht: einen Hohlraum im verwinkelten Gebälk. Ein Vakuumgegenteil, das sich ihm bieten will und doch nicht kann. Und er: Er nur noch glatte, gedachte Oberfläche. Er nur noch er, aus dem er langsam erwacht. Und seine Glieder schmerzen. Wieder. Aber was heisst hier Glieder?

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1 Wanne-Eickel war eine kreisfreie Stadt im nördlichen Ruhrgebiet. Im Rahmen der Gebietsreform wurde Wanne-Eickel mit Wirkung vom 1. Januar 1975 mit der kreisfreien Stadt Herne zusammengeschlossen. Seine Kreisfreiheit erhielt Wanne-Eickel 1926 als Stadtkreis, seit 1955 war es Großstadt. Das ehemalige Kfz-Kennzeichen ist WAN. Bis zu seinem Zusammenschluss mit Herne wies Wanne-Eickel die größte Bevölkerungsdichte ganz Europas auf. Das Wappen der Stadt Wanne-Eickel wurde in leicht veränderter Form das Wappen der neuen Stadt Herne. Auch die Stadtfarben gelb-schwarz-gelb wurden übernommen. (Quelle: Wikipedia)