Totalitäten, Störungen, Rauschen

(M46)

In diesem Fall handelt es sich freilich um eine sehr fatale Wette, denn es geht um nichts weniger als um den Erhalt der Überlieferung, der eben genau durch die Totaldigitalisierung in seinem Kern in Frage gestellt wird. Dann nämlich, wenn die empirische Vielfalt der Speichermedien und Speicherformate überwunden wäre, um in ihrer Überwindung zu einer echten Totalität und Ubiquität der Überlieferung zu führen, würde eine einzige unvorhergesehene Störung genügen, um das gesamte System zum Absturz zu bringen und die digitale Totalüberlieferung in digitales Totalrauschen zu transformieren. Es wäre dann auf kulturellem Gebiet das erreicht, was man auf dem Gebiet der Agrikultur seit Jahrzehnten beobachten kann: die Ausweitung der Monokulturen verspricht zunächst eine günstigere und nährstoffreichere Versorgung auch abgelegener Teile der Weltbevölkerung, um ab einem gewissen Punkt die planetaren Grundlagen der Agrikultur insgesamt zu erodieren und die Versorgung in Verarmung zu verkehren. Dagegen hilft nur die Suspension der Logik des Vernünftig-Allgemeinen, um in dieser Suspension die ins Technische gewendete totale Monokultur zu überwinden und zur Totalität einer empirischen Vielfalt zurückzufinden, die als Vielfalt unser aller kulturelles Kapital ausmacht. Es hieße, bibliothekarisch gesprochen, „Bestandspflege“ zu betreiben.

Aus Uwe Jochum: Vernichten durch Verwalten. Der bibliothekarische Umgang mit Büchern. In: Körte, Mona. – Verbergen – Überschreiben – Zerreissen : Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion : Schmidt, Erich, 2007