Trost

(E6)

Benedikt ärgerte sich. Er war mit seinem veranschlagten Zeitplan für diesen Tag schon weit hinterher, hatte sich ablenken lassen, hatte an Fenstern gehangen und das Treiben auf dem Spielplatz auf der gegenüberliegenden Seite verfolgt, hatte sich von vielversprechenden Titeln seiner Tageszeitung einfangen lassen, die alle nicht hielten, was sie versprachen, und hatte zuviel Kaffee getrunken, sodass er nun kaum still sitzen konnte und die Schreibhand zitternd, aber nicht aus Gründen eines Überdrucks etwa, der bald eine Blase zum platzen brächte und das leere Blatt vor ihm füllen würde, sondern aus dem naheliegenden Grund, der nun völligen Nervenüberreizung.

Natürlich war ihm auch der Bücherberg, der sich vor ihm aufbaute und den er nicht weiter bewegt hatte, seit er ihn gestern hier zwischenlagerte, ein Graus, eine kaum zu überwinden scheinende Herausforderung, für die er noch nicht einmal angemessen ausgerüstet schien, wie er nun dachte. Die einfachste Möglichkeit wäre sicher, es so zu machen, wie er es immer zu tun pflegte, also ein beliebiges Buch zu nehmen und es zu öffnen, an einer beliebigen Stelle.

Ein Verfahren oder eine Zugangsweise, die ihm schon oft nützlich und zupass kam, wenn er sich in einem unübersichtlichen Meer von Aussenständen bewegte, die alle gleichermassen aufdringlich um seine Aufmerksamkeit warben.

Gerade wollte er sich ein Bändchen vornehmen, das ganz zuunterst des Gewächses lag und etwas dünn geraten war, und vielleicht gerade deswegen verlockend oder auch: wegen einer etwas Beifall heischenden Symmetrie der Signatur am Buchrücken, da stockte er in der Bewegung, wie es uns im Moment eines plötzlichen Dejavues geschehen kann, das uns ein Wiedererkennen vorspielt und uns gänzlich und für eine kurze Zeit aus allen Räumen und Zusammenhängen entfernt.

Und es war eher ein Gefühl als konkretes Bild, das sich da auftat, aber sogleich von Benedikt einem Ereignis zugeordnet werden konnte, was wiederum von ihm als eher seltenes Phänomen gewertet wurde. Dieses Gefühl, das zwar allmählich ein Bild, aber allerhöchstens ein Schriftbild erzeugte, war von ihm, wie ihm allmählich dämmerte, in einer ebensolchen Lage schon einmal untergekommen und gespeichert, und es hatte mit seiner ersten längeren Arbeit zu tun. Seinem Roman, wie er sie nun selbstbewusst nannte.

Auch dort hatte er sich mit dem Zugriff auf geschlossene Bücher beschäftigt, oder war das zu einem Zeitpunkt, als er sich in Gefangenschaft eines solchen befand?

Er ging wieder hinüber in sein Arbeitszimmer und holte sich das Exemplar mit den Korrekturen letzter Hand. Wie dankbar war er nun sich und dem Text, dass er damals ein ausführliches Register angelegt hatte. Mehr noch: dass eigentlich das Register den Kern des Buches darstellte. Die meisten Leser seines Buches hatten sich vor allem auf das Register gestürzt und nicht wenige gaben zu, nur dieses gelesen zu haben, was ihnen aber vollauf zu genügen schien, wie stets versichert wurde, und der Haupttext, was nicht weiter schlimm wäre, weil nun einmal notwendig, für sie mit dem Charakter einer Fussnote.

Benedikt fand die Registerstelle sehr schnell, denn diese war auch nach dem Erscheinen des Romans eine wieder und wieder konsultierte Seite, die weiter mit Stichworten und handschriftlichen Eintragungen versorgt und ergänzt worden war. Mit immer neuen Ideen und Gedanken, die im Falle einer Neuauflage dort hätten einfliessen können.

Es handelte sich um eine sehr kleine Passage aus dem fünften Kapitel, die er Kleine Theorie des Exzerpts genannt hatte, von dieser aber allerdings nur noch, zumindest in der von ihm überschriebenen Fassung, der Titel übriggeblieben war. Benedikt las:

Während der Lektüre der alten Dokumente kommen ICH Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Tuns. Vor allem die Texte zu exzerpieren bereitet Mühe, da auch dieses Verfahren eine subjektive Schnittsetzung bedeutet und damit nun weder wissenschaftlich sauber, noch fiktional originär wäre. ICH arbeitet dennoch weiter.

Eine nicht mehr besonders aussagekräftige Eintragung nach all den Überarbeitungen, dachte Benedikt, und fragte sich kurz, ob das denn nun der Sinn seines vielfachen Überarbeitens sein konnte, doch dann, und vielleicht war es gerade das, was hier als Sinn entwickelt wurde, blätterte er über einen Verweis zu der hier so zusammengefassten Passage zur Originalstelle und machte es sich mit ihr gemütlich.

Überhaupt: Die Stille. Die Arbeit am Exzerpt ist eine methodische und deshalb unbefriedigende Frage und quält mich. Ist das, was da von mir ausgeschnitten wurde und wird, was da von mir als wichtig oder irgendwie bedeutend wofür auch immer von mir erkannt und isoliert wird, was da also von mir möglicherweise auch physisch herausgelöst wird, vorsichtig, sicherlich, aber sich dann, nachdem es vorne und hinten und oben und unten gekappt wurde oder auch aus einem ganz anderen Medium in dieses überführt wurde, noch originär? Und: Wozu es gut sei ohne Hinblick? Oder ist es nicht etwa Etwas, das man schon mit seinen Schnitten gestempelt hatte? Und würde es dann nicht ganz etwas anderes bedeuten? Vor allem einen Missbrauch? Etwas in etwas anderes einzubetten.

Ja selbst wenn es sich noch nicht in seiner neuen Heimat befände, wenn es sich also auf dem Weg, aus dem langen Schlaf der Geschichte gerissen und mit noch verklebten Augen herausgezerrt fühlt, fast nackt, durch den Kopf des wieder ersten Lesers, also mir, dann in der Luft, dann durch Tastenschläge malträtiert, auch wenn nichts darauf hindeutete, dass etwas in so einer langen Kette verloren ginge oder geändert würde: wenn es sich also daraus formiert, digitalisiert und nun nicht mehr auf halbsaurem, gelblichem Untergrund sauber dahingeblättert liegt, sondern auf blütenweiss glänzender Leinwand, einer Plasmaschicht, die nach der Auslöschung des Lichts mich spiegeln will? Was wäre dabei passiert?

Einige Momente der Entauratisierung, oder, muss man sagen: der Transautorisation wären dann verstrichen und der exakte Ort nicht mehr lokalisierbar, notiere ich darunter.

Und: Dass all dies nur zur Fussnote taugte, die nur im Zweifelsfall etwas sagen und bestätigen oder widerlegen soll, was nur beiläufig zu erwähnen ist und dann aber nur vielleicht irgendetwas erhärtet. Dabei, scheint es mir, ist es unerheblich, wie lange das Gesagte, wie klein zerstückelt, wie – wieder miteinander verschachtelt und verkettet – das Erscheinungsbild des Entnommenen, nur diesem einen Zweck, so die Vermutung: dort konkret zu werden im Moment des Sinnlichkeitsverlusts. Und mich etwas zu stärken auf Kosten besagten Missbrauchs in einer Fussnote, die von niemanden gelesen wird. Das ist der Trost.

Benedikt kam wieder zu sich. In nicht wenigen Fällen eines solchen Lektüreschlafs blieb nicht etwa nichts von der durchschlafenen Passage in ihm übrig, sondern manchmal ein, zwei reisserische Sätze, die um Verwebung baten, in diesem Falle: Der Trostblock. Nur dieses Wort schon zu lesen, hinterliess in ihm ein Gefühl des Trostes und der Versöhntheit, sodass er den Nachgeschmack eines weiteren Überbleibsels seiner dort fortgeführten Theorie des Abschriebs von sich selbst, die allerdings etwas naserümpfend vorgetragen wurde, überwand und diese positiv besetzte. Er notierte: „Der Selbstabschrieb“. Und begann sich dafür innerlich zu preisen, auch wenn dieser nur andeutungsweise und keineswegs stark umrissen oder verworfen worden war von seinem damaligen Ich, so nun: poetisch und als legitime Verfahrensweise empfunden, mit der er sich, wie er gleich darauf beschloss, noch einmal näher beschäftigen würde.

Alles zu seiner Zeit, murmelte Benedikt, denn dieser Komplex, wie er sich nun weiszumachen versuchte, und das musste er strengstens, wollte ihm heute noch etwas anderes gelingen als eine Überdenkung dieses Gedankens, hatte nur mittelbar mit seiner jetzigen Arbeit zu tun. Also: Alles zu seiner Zeit, murmelte Benedikt noch einmal, während er sich wieder dem Buch mit der auffälligen Buchrückennummer zuwenden wollte, da fiel sein Blick auf den Buchrückentitel.

„Eine kleine Geschichte der Ökonomie“, stand da. Und auf der Vorderseite: „Eine kleine Geschichte der Ökonomie“. Benedikt war auf einmal ratlos, dann überflog er die anderen Buchtitel seines Apparats. „Unternehmensethik und globale Märkte“, fand er da, und: „Denkanstösse zu einer anderen Geographie der Wirtschaft“. Undsoweiter.

All das, was er unter grossem Aufwand nach Hause getragen hatte, war nichts, womit er nur irgend etwas anfangen konnte. Lange grübelte er, wie und warum da etwas schief gelaufen war, dann erkannte er den Fehler.

Nur ein kleiner Unterschied in der Schreibweise seines Namens, eine phonetische Namensvetterschaft, musste wohl für dieses Versehen gesorgt haben.

Seltsamerweise trat er den Weg in die Stadt in sehr beschwingter Laune an.

An der Ausleihe herrschte Hochbetrieb. Als Benedikt an die Reihe kam, seine schweren Tüten über den Tisch schob und versuchte, sein Problem zu erklären, erfuhr er der Grund der ungewöhnlichen Betriebsamkeit. Ein Netzwerkfehler, hiess es, der zu andauernden Abstürzen im Zentralsystem der Verwaltung führte. Der Auszubildende wollte ihm noch weitere Details verraten, da griff ein Kollege ein. Eine Kollegin würde sich gleich seiner annehmen, vertröstete man ihn. Im Moment müsste alles händisch festgehalten werden, damit später die Buchungen korrekt nachgetragen werden könnten. In seinem besonderen Anliegen … Dann wurde er zu einem Zimmer geleitet, vor dem er kurz warten sollte, man würde sich gleich um ihn kümmern.

Nach einer kurzen Weile öffnete sich die Türe und die Auskunftsbibliothekarin von gestern bat ihn herein. Benedikt hatte von diesem Moment den Eindruck, dass er sich Ewigkeiten in die Länge zog: der Tritt über die Schwelle in ihr Büro. Unsicher tastete sein Blick die Regale und Veranstaltungsposter in diesem winzigen Raum ab, dann blieb er an dem Namensschild auf ihrem T-Shirt hängen. Ihr Name war Anna.