Im Moment und Akt des Schreibens entstehen, diesem Verfahren nach, gleichzeitig zwei unterschiedliche Urschriften bzw. Exemplare eines Textes – dasjenige auf Papier und ein rein Digitales. Welches wäre das “ursprüngliche” oder “Original”? Oder spielt diese Frage hier keine Rolle? (bhfr)
Wie in keinem anderen vergleichbaren Kunstwort ist die Aura der Autographie eingeschrieben. Im Falle der Ichschrift ist eine aus jener Perspektive zu betrachtende, wortwörtliche wie übertragene Bedeutung für das Verstehen dieses Verfahrens (dieser Produktion) notwendig. Die Herstellung der Schrift verzweigt und überträgt sich im Moment des Schreibaktes in zwei mediale Typen. Es wird einerseits ein handfestes, materielles (die Schrift des Kugelschreibers auf das Papier, die Gravur ins Papierfleisch) und gleichzeitig (synchron, ja, es wäre sicher spitzfindig zu untersuchen in welchem Millisekundenbereich das frühere Ankommen der einen oder anderen Spur auf dem Trägermedium stattfindet) die Bewegung in Farbe, Gravur bzw. Code in ein (Ur-)Digitalisat (12) verwandelt.
Es wäre also buchstäblich zu unterscheiden bzw. zu fragen, welcher der beiden Originaltypen (dieses Doppeloriginals?, dieses Originaldoppels?) der ursprünglichere, in diesem Falle potentiell auratischere ist. Eine Reproduzierbarkeit (13) im Benjaminschen Sinne wäre im Falle manifester Schrift, die zwar einmalig ist, doch beliebig vervielfältigt (entauratisiert) werden kann, gegeben. Das Digitalisat aber, das ebenso reproduzierbar, und in sich schon Kopie im Moment der Versendung (z.B. qua Weblog und im Moment des Auftauchens in diversen Readern und Archiven) trägt, das eben aber eine andere, weitere Qualität (die der Bewegung) mit einschliesst.
Die textkritische Befragung von Urschrift (Autograph) muss künftig also theoretisch und technisch das Vorhandensein einer doppelten Schrift (Originale: manifest / Digitalisat) mit einschliessen. Was den Benjaminschen Aura- und Werkbegriff angeht, sehe ich die Möglichkeit oder Notwendigkeit einer De- bzw. annähernden Rekonstruktion des Aurabegriffes im Zeitalter der Abbildungsoptionalität originärer Schreibbewegungen. Eine Reproduktion eines Ensembles aus originärer (manifester) Handschrift und Urdigitalisat (weitere Originalitätseinschreibungen: time-stamps, DRM-Wasserzeichen), mag zwar unter erschwerten Bedingungen möglich sein, durch den sinnlichen Doppelcharakter eines so verfassten autographischen Dokumentes gerät dennoch zumindest die Idee oder der Begriff der (einen) Spur (14) ins Wanken bzw. in Bewegung und verändert möglicherweise die Distanz zu einer als idealauratisch gedachten Werkrezeption.
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(12) Zur Erklärung dieses speziellen Effektes: Bei der Übertragung der Datei in eine entsprechende Software ist gut zu beobachten, wie sich die Schrift-Bewegung noch einmal vor dem Betrachter aufbaut, diese also nachgebildet wird. Wird also bspw. eine spätere Ergänzung auf der Seite an einer vorangegangenen Stelle eingefügt, so kann das im Vorgang der Übertragung bzw. Sichtung nachvollzogen werden. Das Digitalisat wäre also aus dieser Sicht, gegenüber dem manifesten Autograph, das präzisere, sinnlich mehrstelligere, sodass eigentlich diesem (Digitalisat / Vorgang) eine so vorhanden vorrangigere Auraeigenschaft zukäme. Etwas strenger formuliert: es gibt zwei Originale der Schrift. Und Zeichentheoretisch auf die Ichschrift als Bildkunstwerk angewendet: beide Versionen können als Werk aus synchronen wie diachronen Zeichen betrachtet werden. Die Diachronie (die Aufbaubewegung) im Falle des Digitalisats ist hier aber eine doppelte, weil die Schrift als fortlaufender Text, das Fortlaufen ihrer Selbst reflektiert bzw. darstellt.
(13) Die Aura ist [die] Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft […] was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura (Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit).
(14) Die Spur ist [die] Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ (Walter Benjamin, Das Passagenwerk: Der Flaneur).