Vorgang „V“

(M12)

Was soll ich mit der Seite tun? Ich entschied mich für den Vorgang „V“. Der Buchstabe galt bei mir als Kürzel für „vergängliches, ephemeres Material“. Die Bibliothek verfährt nach dem Motto: solches Material sammeln, sieben und dem Test der Zeit aussetzen. Sobald wir zu einem gegebenem Thema immer mehr Schriften entdecken, wickeln wir sie am Ende in Packpapier, machen eine kurze Katalog-Eintragung und legen den Packen zur Seite … Der V-Vorgang besteht überwiegend aus kauzig verschrobenen literarischen Texten oder unbeantworteten Liebesbriefen – je nachdem, wie man es nimmt … Es war höchste Zeit, daß ich den Vorgang einsah. Er platzte bereits aus den Nähten. Es war an mir, ihn auszujäten, sobald einige Monate verstrichen waren. Dafür gibt es keine Regel … Was den Inhalt angeht, so sind die Papiere allesamt von zweifelhaftem oder unbekanntem Wert, der sich nicht ohne weiteres abschätzen läßt. So sortierte ich nach dem Zufall aus und entfernte: 2 Geständnisse über perfekte Verbrechen, 10 Adelsstammbäume von unbekannten Personen, 12 Manifeste über den einzig wahren Glauben, 1 Entwurf zu einem Perpetuum mobile. Das gab wieder Luft.

In: Ann Grace Mojtabai, Mundome. Frankfurt 1978