Wechsel

(E10)

Erst am nächsten Morgen, ein früher Morgen, kam es ihm vor, weit früher als die vergangenen Morgende, kam es ihm vor, begann Benedikt aufzustehen und gleich darauf sich seiner Kleider zu entledigen. Er hatte sich vor dem Einschlafen nicht ausgezogen, wieder einmal, und auch sonst verliess er den gestrigen Abend unverrichteter Dinge. Noch bevor er sich aufmachte in Richtung Dusche, empfand er die dahingeworfene Jacke nebst der Tasche als derartige Störung, dass er den Inhalt letzterer entleerte und notgedrungen versorgte. Die Jacke unterzog er einer Säuberungsaktion. Seltsam. Da tauchte ein Durchschlag eines Wechsels vom Goldenen Falken auf – an diesen konnte er sich gerade noch erinnern. Es war aber doch ein erstaunlicher Betrag, der da nun zuunterst stand. Dieser blanke Briefumschlag ohne Adressierung oder Absender jedoch, war ihm völlig unbekannt. Wie kam er dort hinein?

Schon etwas klamm, beförderte er seinen Inhalt ans Licht. Zwei zweimal und ineinander gefaltete, dichtbefüllte Seiten, von denen er just den Anfang erwischte.

Die Schrift war, gelinde gesprochen, flüchtig dahingewischt und ihre Entzifferung bereiteten Benedikts lemyatischen Augen reichlich Mühe, aber er war nun neugierig geworden.

Lieber Benedikt, ich darf Sie doch hoffentlich so nennen? Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie gekommen sind und mich gleichzeitig bei Ihnen entschuldigen. Sicher haben Sie bemerkt, dass ich mich gestern Abend etwas verhalten habe, dass ich nicht sprechen konnte, das heisst öffnen, wie es üblicherweise meine Art ist. Aber unsere Bekantschaft hat wohl auch noch nicht das Stadium der Üblichkeit erreicht. Ich möchte Sie wirklich versichern, dass es nicht an Ihnen lag. Dass ich Ihrer Person durchaus zugeneigt bin. Aber es lag an den Umständen. Ich möchte da ganz offen mit Ihnen sein, denn ich habe das Gefühl, Ihnen vertrauen zu können. Ich glaube, ich werde beobachtet. Ich will nicht so weit gehen zu sagen, ich würde verfolgt werden, aber es gibt da Indizien, dass man mich ins Visier genommen hat. Es gäbe da auch einige Gründe, warum diese Vermutung Berechtigung hat, aber in der Eile – ich möchte nicht allzusehr ins Detail gehen …

Man habe sie also im Blick, schrieb sie da weiter, und ihre Schrift zeugte von einer zunehmenden Nervosität. Sehr wahrscheinlich handelte es sich dabei um ihre Arbeit, die von gewissen Seiten beargwöhnt wurde, wie sie stark annahm. Und das war zum einen oder doch hauptsächlich: die der Wahrnehmung. Sie halte also Ereignisse fest, so gut sie konnte, so bemühte sie sich etwas umständlich auszudrücken, musste diese aber dementsprechend verkleiden, ständig, das hiesse: diese bis zur Kenntlichkeit entstellen, wie sie ihm gegenüber wohl schon einmal bemerkt hatte. Und: ob ihm vielleicht aufgefallen war, dass sie sich manchmal wiederhole? Aber gerade das war ein Effekt ihrer Camouflage. Es blieben da nicht immer viele Möglichkeiten etwas Anderes anders zu beschreiben, als in der Wiederholung, schrieb sie da. Nun wollte sie ja auch von dem Stück, an dem sie gerade arbeitete berichten, aber eben Zeitpunkt und Ort: ungeeignet. Und doch hatte alles mit ihrer, nein “unserer”, wie Benedikt nach nochmaliger Lektüre herauslas, Sachlage zu tun. Alles.

Benedikt musste das ja bemerkt haben. Hatte er das? Wer denn in diesem Lokal anwesend war, in das sie bald nicht mehr gehen konnte, was sie sehr bedauerte, denn eigentlich entspräche es ganz ihren Wünschen.

Ich schlage also vor, lieber Benedikt, wenn ich Sie denn so nennen darf, dass wir uns einmal an einer anderen Stelle treffen. Natürlich nur, wenn Sie noch Interesse haben. Das muss Ihnen doch sehr ungeheuerlich vorkommen. Nun muss ich Schluss machen und ich hoffe, dass Sie alles weitere werden vertraulich behandeln können. Vielleicht bis bald, A.

Das alles hatte sie auf zwei Seiten makuliertem Papier untergebracht. Benedikt rätselte immer noch, wann sie das alles geschrieben haben konnte. Etwa auf der Toilette? – doch so lange war sie gar nicht abwesend gewesen. Er konnte das nicht mehr rekonstruieren. Und wie hatte sie es fertiggebracht, ihm diesen Umschlag unterzujubeln? Auch bei diesem Punkt vermochte Benedikt nicht genau zu erkennen, ihr irgendwann eine Gelegenheit gegeben zu haben. Als er das Schreiben ablegen und endlich zur Dusche gehen wollte, nicht ohne die leichte Befürchtung, sich eine Irre angelacht zu haben, fiel ihm die Rückseite der Papiere auf. Dabei handelte es sich um Ausdrucke oder Kopien eines dramatischen Entwurfs, dieser allerdings grosszügig gestrichen.

Das Wasser war eiskalt. Er hatte vergessen den Boiler wieder anzustellen. Das: vor zwei Tagen schon, als dieses von den Handwerkern kurzfristig und aus ihm undurchsichtigen Gründen gefordert worden war. Die Erwärmung würde eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, also schlurfte er in die Küche, bereitet ein Kännchen Kaffee vor und machte sich an die Arbeit.

Was sollte man davon halten? Benedikt war sich seiner Sache nicht mehr so sicher. Je mehr er las und fand, und das waren einerseits wissenschaftliche Texte, zumindest sahen diese nach dem ersten Augenschein so aus, solche, die sich aus einer direkten Zeitgenossenschaft erhoben und dabei gleichzeitig auf der Augenhöher des Alltags sprachen, dann wieder: seltsame Theorien unfassbarer Ideen, die von seinem Gegenstand als einem Gebäude sprachen, ohne Anschein auf eine molekulare Struktur, oder etwas, das beliebig viel und gleichzeitig keinen Raum in Anspruch zu nehmen imstande war. Ein abstraktes Etwas, das auch an einzelnen Stellen auf Punktgrösse reduziert wurde. Dann wiederum pflückte er Prosaflocken aus Romanen oder Erzählungen, die diese lediglich als Gestaltungsraum möblierte. Fluides Material, alles in allem, und in dieser losen Unordnung, durchscheinen, instabil und jederzeit bereit, sich schnell in etwas anderes zu verwandeln, wenn es denn wie jetzt auf dem Küchenboden verschoben wurde. Benedikt plante, als der Kaffee zu sprudeln begann, dieses bald zumindest einer kleinen Nummerierung zu unterziehen, damit wenigstens eine Winzigkeit an Orientierung entstehen konnte, durch die er später, wie sich langsam abzeichnete, wohl oder übel geduldig, navigieren konnte.

Gerade, als er sich eine einfache und handhabbare Möglichkeit der Triagierung ausgedacht hatte, und er damit begann, die Erscheinungsdaten seiner Fundstücke mit einem Leuchtstift zu markieren, drängte sich der Verdacht auf: je weiter sich die Passagen in seine Richtung entlang einer Zeitachse bewegten, desto stärker schien sich eine vorgebliche Realität jener Untersuchungen neuerer Zeit den Grossentwürfen sogenannter Spekulativer Bibliotheken anzunähern. Er versuchte diesen ihm fremden Gedanken noch einmal genauer zu fassen. Folgerichtig musste es dann wohl heissen, dass sich jüngere oder jüngste Zeit jenen absurden, oder vielleicht sollte er sagen: realitätsalternativen Entwürfen annäherte, die allgemein aber als “Realität” anerkannt waren, oder und: diese Realität sollte – nach Ansicht der dominierenden Kommentatoren – weiter so betrieben und ausgeführt werden … Benedikt nahm sich nun einen Stift zur Hand, denn der Gedanke war kurz davor, ihm zu entgleiten. Noch einmal versuchte er seine Beobachtung in einer Frage einzufangen, reduzierte weiter und hielt fest: könnte es sein, würde man all diese einzelnen Ausschnitte zusammenlesen, dass sich allmählich sogenannte Wirklichkeit, was nun das Verständnis der Bibliothek anging, auch – und das war von den meisten unbestritten – als Spiegel der Welt aufzufassen, deren Sein und Status sich allmählich in eine Grossfiktion verwandelte? Was ihre fortschreitende Entmaterialisierung anginge, wie es nun häufig genannte wurde, musste Realität also als irreales, oder war es umgekehrt?, Ereignis, oder eher: unmöglichmöglicher, aber gleichberechtigter Zustand bezeichnet werden. Wenn eine Bibliothek denn Spiegel der Welt zu sein hatte … Das war ein phantastische These! Benedikt freute sich, dass es ihm doch noch gelungen war aus all diesem Wirrwarr zumindest eine kleine Provokation zu formulieren. Es war ihm natürlich klar, dass dieser Gedanke fast so alt war, wie die Menschheitsgeschichte. Aber vielleicht hatte er einen weiteren kleinen Weg gefunden, dieser Form des Konstruktivismus, den er an sich nicht unsympathisch fand, wieder etwas Wasser auf die Mühlen schaufeln zu können. Er würde es weiter verfolgen müssen, und sicher: einige empirische Daten mussten hinzugezogen werden, nur so bliebe dieser Ansatz auch in grösseren Kreisen haltbar. So musste sich Dirac gefühlt haben, kurz nach seiner Entdeckung eines quantentheoretischen Novums, dachte sich Benedikt. Doch das war noch zu zementieren.

Mit lautem Getöse schoss nun der Rest des Kaffees durch die kleine Bricca. Benedikt war nun bester Dinge und goss ihn in eine übergrosse Tasse, worin er noch im selben Moment erkaltete. Dann steckte er sich eine Zigarette an.

Benedikt ordnete immer noch das schon vorhandene Material, zufrieden, die einzelnen Passagen benannt, d.h.: zur besseren Austauschbarkeit identifiziert zu haben. Beinahe dreissig solcher Funde waren schon gemacht, übertragen und vermerkt, und mit diesem neuen Schlüssel, wovon Benedikt nun überzeugt war, konnte er vielleicht etwas zeigen, etwas, das für sich sprechen und stehen konnte, etwas, das im besten Falle auch belehrte und erheiterte, etwas, Benedikts Puls war ihm nun halsseitig spürbar und er so etwas wie einem kleinen Rausch nahe, was aber nur ein kleiner Schwindel sein konnte, auf Kaffee und Nikotin und leeren Magen zurückzuführen … etwas … da klingelte das Telefon, was ihn flugs aus seiner Bekiffung riss.

Wer konnte ihn da anrufen? Er hatte doch niemandem seine Nummer gegeben.

Am Apparat war Anna. Sofort fragte er sie, mit ihm ungebührlich strenger Stimme, was ihm aber augenblicklich leid tat, woher sie denn seine Nummer hatte; doch sie konterte geschmeidig: schliesslich sei er ein Benutzer. Eine Bibliothek wisse viel, wenn nicht sogar alles über ihre Benutzer. Dann: ob er denn nun einmal Zeit habe, die nächsten Tage. Benedikt bejahte. Schön, antwortete sie. Sie käme dann vorbei. Benedikt wollte noch nachfragen, wann das denn nun genau sein sollte, da war die Leitung schon unterbrochen.