Weder Autor noch Leser / Weltformeln

(M30)

Eine in diesem Sinn imaginär-utopische Bibliothek wäre weniger die prinzipiell durchaus realisierbare „biblioteca aperta“, jene ideale „biblioteca a misura d’uomo“, die derselbe Umberto Eco in seinem Vortrag „De Bibliotheca“ von 1981 entwirft und mit jener Bibliothek konfrontiert, deren Funktion darin besteht, „di non far leggere, di nascondere, di celare il libro“, sondern etwa die Megabibliothek, die Leibniz in einem mit Apokatastasis panton betitelten, erst 1921 publizierten Fragment beschreibt: Diese Universalbibliothek, welche die Gesamtheit der Menschheit als „beste aller möglichen Welten“ speichern, aber im Grunde weder Autor noch Leser kennen würde, entstünde im Durchspielen aller Möglichkeiten der Kombination von Buchstaben eines endlichen Alphabets zu Wörtern. (…) Die Tatsache, daß diese Bibliothek indessen nur den beschreibenden Nachcollzug der Welt in rein akkumulierter Form, also ohne Systematisierung speichern könnte, führt Leibniz über sie hinaus zur Utopie der „Mathesis universalis portabilis“, der Weltformel, die ihrerseits aber wieder die Bibliothek, alle Bibliotheken überflüssig machen würde.

Rieger, Dietmar. – Imaginäre Bibliotheken : Bücherwelten in der Literatur / Dietmar Rieger. – München : Wilhelm Fink Verlag, 2002, S.101f.