Und der OCR-Anteil im Gesamt? Das ist doch auch Fremdtext oder autorschaftlich fraglicher Text. Wie wäre etwa dessen Qualität zu beschreiben? (bhfr)
Es wurde oben (II, IVa, VI) schon angeschnitten und soll hier noch ein wenig weiter erläutert werden. Analog zum Verhältnis der Fremdautorschaft und deren wechselseitigen Einverleibung in den Text (in die Texte) muss noch einmal auf das der Fremdleserschaft hingewiesen werden. Jenem Textanteil also, der in der Form einer Optical Character Recognition (OCR) (16) wieder als Ichschriftelement auftaucht. Das Verstehen, d.h. das Nicht- oder Missverstehen (die Varianz) ist also, je nach Tagesform der Handschrift, grösser oder kleiner, aber immer gegeben, da der Zustand wie beim Training eingefroren wurde, auch: ein gewisser Nullzustand des potentiellen Texts, wohl nicht mehr erreicht werden kann. Typischerweise entstehen also Abweichungen, die aber wie selbstverständlich zum möglichen Apparat von Lektüre hinzugezählt werden müssen. Diese misreadings können und sollen also (vgl. o. Derrida) unter dem Aspekt poetischer Produktivität gesehen werden, einerseits, weil diese Textabweichungen durch ihren spezifischen Rekurs (das Trainingsprogramm, die Aneignung meiner (Ur-)Schrift durch die Software) eine andere Wahrheit des Texts bedeuten, und diese Wahrheit der Misslektüre selbst wieder, nun auch als maschinelles Phänomen, das poetische Prinzip a) dieses Textes und b) dieser Anordnung bzw. c) des Schreibens insgesamt, präsentieren.
Oder auf diese Weise: Die Abweichung als ästhetisches Surplus und innerhalb eines Ichschriftelements die Konfrontation der zwei Textqualitäten (die Handschriftlichkeit, das Typographem), dieser Dualismus erinnert mich auch sehr an einen Chiasmus der Art: Das unlesbare Lesbare verschränkt sich mit dem lesbaren Unlesbaren. Diese Bereiche sollen also einen Dialog (17) darstellen, der, wenn man unverschämterweise so will, auch noch einmal an populärpsychoanalytische Vorstellungen von Befragungs- und Wechselspielszenarien erinnern könnte.
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(16) Hier: doch eine etwas zu allgemeine bzw. unscharfe Feststellung. In das Erkennungsverfahren wurden auch automatisch Teile anderer Erkennungsdienste hinzugezogen, z.B. der Kontextanalyse wie bei ICR-Verfahren (Intelligent Character Recognition) üblich. Generell, da diesem Lektüremodus ein Trainingsprogramm vorausging, muss vielleicht sogar von einer IWR-Methode (Intelligent Word Recognition) gesprochen werden. Da mir die exakte Arbeitsweise des Programms aber nicht im Detail bekannt ist, spreche ich hier vorzugs- und neutralerweise allgemein von einer Lektüre bzw. Fehllektüre (reading / misreading). Das Ergebnis dieser Lektüre, das Verstehen der Maschine, wird ja nur in dem Moment relevant, wenn aus diesem (miss-)verstandenen und rein formal decodierten Text, neue, andere, abweichende Verstehens- und Schreibimpulse erzeugt werden sollen. Eine qualitative Bewertung dieses Fremdverständnisses interessiert hier also primär nicht.
(17) Die OCR/Misslektüre als 4. Element wird allerdings in einer anderen Abteilung selbst wieder transkribiert. Das nun nichtmaschinelle Erkennenwollen des als Abweichung Erkennenswerten bedeutet freilich eine Rückholung des Textes in den Bereich menschlichen, semantischen Verstehens. Folglich sind im Gesamttext des Werkes also diverse Dialogsituationen angelegt, die ohne diese weiter zu differenzieren oder zu benennen keine symmetrische Dialogizität insinuieren sollen.