"Weniger ein Erinnerungs- denn ein Einfühlungsbuch, zeigt diese Spurenlese in der Geschichte einer sehr vermögenden Familie, dass in der eigenen Bescheidenheit zu jeder Zeit die größte Eleganz liegt. ... Eine unbedingt zu erlesende Kostbarkeit." Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.08.11
"Ein hinreißendes Leseerlebnis! Ein bescheidenerer, diskreterer und feinsinnigerer Chronist als de Waal ist nicht denkbar." Julia Kospach, Die Presse, 20.08.11
"Einzigartig in seiner Mischung aus akribischer Recherche und ungewöhnlicher Liebe zu Details. … Seine Sprache ist nüchtern, elegant und präzise, sein Interesse an Details lässt einen die Vergangenheit sinnlich erfahren." Johanna Adorján, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21.08.11
"Edmund de Waals Buch, in England sofort auf den Bestsellerlisten, verführt wie ein japanischer Garten im Detail, das immer auf ein unsichtbares Ganzes verweist. Es ist unbedingt zu lesen - nicht nur von Sammlern." Anja Hirsch, WDR3 Passagen, 29.08.11
"Es fängt winzig an. Edmund de Waal hält eine aus Kastanienholz geschnitzte Mispel, eine Rosenfrucht, in seinen Händen. … Und am Ende wird aus dem Kleinen, Winzigen etwas ganz Großes: ein Buch über die Geschichte Asiens und Europas, die Dekadenz des Bürgertums, den Antisemitismus der vergangenen beiden Jahrhunderte, die Kunst des Impressionismus, auch über Liebe, Angst und Verlust, und vor allem beschreibt de Waal den Niedergang dieser, seiner Familie." Johan Dehoust, Der Spiegel, 12.09.11
"Ein Buch, das man nicht genug preisen kann – für seine Liebe und seine Neugier, für seine Sorgfalt und Souplesse im Umgang mit tragischen Wirklichkeiten; dafür, dass es in Hinblick auf scheinbar Bekanntes ungeahnte Horizonte aufreisst; dass es die Grösse der versunkenen jüdisch-europäischen Kultur belegt, das Sinn-Universum der Familie beschwört und daran erinnert, dass wir Menschen nicht allein sind. Denn es gibt den Trost von Dingen, die uns als Zeugen begleiten und uns in eine Ordnung rücken, ohne dass wir es ahnen. ... Selten ist einem eine Kartografie jüdischer Erinnerung so unter die Haut gefahren wie diese." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 20.09.11
"In de Waals Darstellung wird eines der finstersten Kapitel europäischer Historie aus der Perspektive der Urgroßeltern so lebendig wie wohl kaum je sonst. … Eines der schönsten Bücher der Gegenwart". Peter Stephan Jungk, Die Welt, 08.10.11
Edmund de Waal wurde 1964 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Er war Professor für Keramik an der University of Westminster und stellte u.a. im Victoria and Albert Museum und in der der Gagosian Gallery in New York aus. Er lebt in London. Bei Zsolnay erschien 2011 sein international gefeiertes Buch Der Hase mit den Bernsteinaugen. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi und 2016 Die weiße Straße. Auf den Spuren meiner Leidenschaft.
Brigitte Hilzensauer, geboren 1950 in Niedernsill/Salzburg, Studium der Anglistik und Germanistik in Wien, arbeitete zuerst als Lektorin und Redakteurin und übersetzte unter anderem Timothy Snyder, Nick Thorpe, Tim Bonyhady, Kapka Kassabova und die Bücher von Edmund de Waal. Sie lebt in Wien.
Prolog. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten.
12. Die Potemkinsche Stadt
Im März 1899 wird Charles' großzügiges Hochzeitsgeschenk für Viktor und Emmy sorgfältig in eine Kiste verpackt und aus der Avenue d'Ie'na geschafft; es nimmt Abschied vom goldfarbenen Teppich, von den Empire-Fauteuils und den Moreaus. Es reist quer durch Europa und wird im Palais Ephrussi in Wien, Ecke Ringstraße/Schottengasse, abgeliefert.
Nun ist die Zeit vorüber, mit Charles spazieren zu gehen und über Pariser Inneneinrichtungen nachzulesen; jetzt sind die Neue Freie Presse und das Wiener Straßenleben um 1900 an der Reihe. Es ist Oktober, und mir fällt auf, dass ich beinahe ein Jahr mit Charles verbracht habe - weit länger, als ich für mzglich hielt, allzu viele Zeitstränge sind für Recherchen über die Dreyfus-Affäre draufgegangen. Wenigstens brauche ich in der Bibliothek nicht die Etage zu wechseln: Französische und deutschsprachige Literatur sind nebeneinander aufgestellt.
Neugierig, wo mein Wolf aus Buchsbaumholz und mein Elfenbeintiger hinkommen werden, buche ich ein Ticket nach Wien und mache mich auf zum Palais Ephrussi.
Dieses neue Heim der Netsuke ist absurd riesig. Es sieht aus wie eine Fibel zum Thema klassische Architektur; daneben würden sogar die Pariser Häuser der Ephrussi bescheiden wirken. Das Palais hat korinthische Pilaster und dorische Säulen, Urnen und Architrave, an den Ecken vier kleine Türme, Reihen von Karyatiden unter dem Dach. Die ersten beiden Stockwerke weisen mächtiges Rustika-Mauerwerk auf, darüber sind zwei Stockwerke aus blassrötlichen Ziegeln, hinter den Karyatiden im fünften Stockwerk Stein. So viele der gedrungenen, unendlich geduldigen griechischen Mädchen mit den halb von der Schulter gerutschten Gewändern stehen da oben - dreizehn an der langen Breitseite zur Schottengasse hin, sechs an der Front zur Ringstraße -, dass es ein wenig so wirkt, als wären sie an einer Wand zu einem gravitätischen Tanz aufgereiht. Ich kann dem Gold nicht entkommen: viel, viel Gold an den Kapitellen und Balkonen. Auf der Fassade glitzert sogar ein Name in Gold, aber das ist verhältnismäßig neu: Das Palais beherbergt derzeit die Zentrale der Casinos Austria.
Auch hier führe ich meine Hausbeobachtung durch. Oder besser, ich habe es versucht, aber gegenüber dem Palais ist nun eine Straßenbahnhaltestelle oberhalb einer U-Bahn-Station, und ständig strömen Menschen vorüber. Nirgendwo kann ich mich an eine Mauer lehnen, innehalten und schauen. Ich versuche die Dachlinie gegen den Winterhimmel zu fixieren und laufe beinahe in eine Straßenbahn; ein bärtiger Mann in drei Mänteln und einer Sturmhaube staucht mich zusammen, weil ich nicht aufgepasst habe, und ich gebe ihm zu viel Geld, damit er verschwindet. Das Palais steht gegenüber dem Hauptgebäude der Universität Wien, wo eben drei Protestkampagnen - gegen die amerikanische Nahostpolitik, gegen Kohlendioxidemissionen, gegen irgendwelche Gebühren - einander an Krach und Unterschriften zu übertreffen suchen. Da kann man sich einfach nicht aufhalten.
Das Haus ist schlicht zu riesig, um es in sich aufzunehmen, es nimmt zu viel Raum ein in diesem Teil der Stadt, zu viel Himmel. Es ist eher eine Festung oder ein Wachturm als ein Haus. Ich versuche seine Größe in den Blick zu bekommen. Das ist sicher kein Haus für den Ewigen Juden. Und dann fällt mir meine Brille hinunter, einer der Bügel bricht am Gelenk, ich muss das Gestell zusammenklemmen, um überhaupt etwas zu sehen.
Ich bin in Wien, durch einen kleinen Park hindurch sind es ein paar hundert Meter bis zu Freuds Wohnung, ich stehe vor dem Haus meiner väterlichen Familie - und ich kann nicht klar sehen. Wenn das keine Symbolik ist, grummle ich, während ich meine Brille hochhalte und den rosa Monolith zu fixieren versuche; für mich ein Beweis, dass dieser Teil meiner Reise schwierig werden wird. Es hat mich schon auf dem falschen Fuß erwischt.
Also gehe ich spazieren. Ich dränge mich durch die Studenten und bin an der Ringstraße; nun kann ich mich bewegen und Atem schöpfen.
Allerdings, diese Straße ist so ambitiös, dass einem die Luft wegbleibt, atemberaubend imperial in ihrer Anlage. Sie ist so breit, dass ein Kritiker während der Bauzeit monierte, sie habe eine ganz neue Neurose geschaffen, die Agoraphobie. Wie pfiffig von den Wienern, eine Phobie für ihre neue Stadt zu erfinden.
Kaiser Franz Joseph hatte angeordnet, rund um Wien eine moderne Metropole entstehen zu lassen. Die mittelalterlichen Stadtmauern sollten abgerissen, die Gräben aufgefüllt und ein großer Bogen neuer Gebäude, ein Rathaus, ein Parlament, ein Opernhaus, ein Theater, Museen und eine Universität errichtet werden. Dieser Ring sollte mit dem Rücken zur alten Stadt entstehen und in die Zukunft blicken, ein Ring des bürgerlichen und kulturellen Gepränges, ein Athen, eine Kulmination von Prachtbauten.
Diese Gebäude würden in verschiedenen Baustilen errichtet werden, doch das Ensemble würde das Heterogene in ein Ganzes zusammenfügen, den grandiosesten öffentlichen Raum Europas, ein Ring mit Parks und offenen Flächen; der Heldenplatz, der Burggarten und der Volksgarten würden mit Statuen geschmückt werden, um die höchsten Errungenschaften in Musik, Poesie und Drama zu feiern.
Für ein solches Schauspiel war ein enormer technischer Aufwand vonnöten. Zwanzig Jahre lang nur Staub, Staub, Staub. Wien, so der Schriftsteller Karl Kraus, wurde zur Großstadt demoliert�.
Alle Untertanen des Kaisers vom einen Ende der Monarchie zum anderen - Ungarn, Kroaten, Polen, Tschechen, Juden aus Galizien und Triest, alle Nationalitäten, Amtssprachen, Religionen - würden hier auf die kaiserlich-königliche Zivilisation treffen.
Es funktioniert: Ich bemerke, dass es seltsam schwierig ist, am Ring stehen zu bleiben, wird doch das Versprechen eines Augenblicks, in dem man alles zusammen in den Blick bekommt, immer wieder hinausgeschoben. Diese neue Straße ist nicht von einem einzigen Gebäude dominiert; es gibt kein Crescendo hin zu einem Palast oder einer Kathedale, dafür aber einen fortwährenden triumphalen Zug von einem großen Aspekt der Zivilisation zum nächsten. Immer wieder denke ich, es werde einen prägenden Blick durch die kahlen Winterbäume geben, einen Moment nur, gerahmt durch meine zerbrochene Brille. Der Wind treibt mich weiter.
Ich gehe vorbei an der im Neo-Renaissancestil erbauten Universität; zwei Treppen führen hinauf zu einem von Bogenfenstern flankierten Portikus, in jeder Nische Büsten von Gelehrten, auf dem Dach klassische Wachposten, auf goldenen Schriftbändern stehen die Namen von Anatomen, Dichtern, Philosophen.
Weiter, vorbei am Rathaus, Phantasiegotik, in Richtung zur wuchtigen Oper, an den Museen vorbei, vorher am Reichsrat, dem Parlament, erbaut von Theophil Hansen, dem damals modischen Architekten. Hansen war Däne und hatte sich durch das Studium der klassischen Architektur in Athen einen Namen gemacht; in Athen hatte er auch die Akademie entworfen. Hier am Ring erbaute er das Palais für Erzherzog Wilhelm, den Musikverein, die Akademie der bildenden Künste und die Börse. Und das Palais Ephrussi. Er hatte bis in die 1880er Jahre so viele Ausschreibungen gewonnen, dass andere Architekten eine Abmachung zwischen Hansen und seinen Vasallen ... den Juden� argwöhnten.
Es war keine Verschwörung. Er wusste einfach seinen Auftraggebern das zu geben, was sie wollten: Sein Reichsratsgebäude häuft ein griechisches Detail auf das andere. Geburt der Demokratie, ruft der große Portikus. Beschützerin der Stadt, die Statue der Athene. U¨berall, wo man hinsieht, ein kleines Detail, das den Wienern schmeichelt. Auf dem Dach sind Pferdegespanne, fällt mir auf.
Tatsächlich, wenn ich hinaufblicke, sehe ich nun überall Figuren gegen den Himmel ragen.
Weiter und weiter. Es wird eine musikalische Suite von Gebäuden, die Pausen dazwischen sind Parks, die Betonungen Statuen. Es hat einen Rhythmus, der dem Zweck entspricht. Seit sie am 1. Mai 1865 mit einem Festzug durch Kaiser und Kaiserin offiziell eröffnet wurde,...