"Poetologie am Ding: Wilhelm Genazino belebt die toten Winkel." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 19.04.06
Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebte in Frankfurt und ist dort im Dezember 2018 gestorben. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt Die Liebe zur Einfalt (Neuausgabe, 2012), Idyllen in der Halbnatur (2012), Aus der Ferne und Auf der Kippe (Texte zu Postkarten und Fotos, 2012), Tarzan am Main (Spaziergänge in der Mitte Deutschlands, 2013), Leise singende Frauen (Roman, 2014), Bei Regen im Saal (Roman, 2014), Außer uns spricht niemand über uns (Roman, 2016) und Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze (Roman, 2018).
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Zu den effektvollsten und nachwirkendsten Geschenken, die mir als Kind gemacht wurden, gehörte eine Taschenlampe. Es war unterhaltsam und spannend, in einem düsteren Raum zu sitzen und den Lichtstrahl der Taschenlampe mal in diese und mal in jene dunkle Zimmerecke zu lenken. Was war eigentlich so toll daran? Vermutlich war es nur der Lichtwechsel, der rasche Austausch der hellen und dunklen Atmosphären. Alle Gegenstände, die ich von ihrer Tagesbeleuchtung her kannte, erschienen plötzlich nur deswegen neuartig, weil der Lichtstrahl der Taschenlampe eine ungewöhnliche Perspektive hervorrief. Nach einigen Wochen, als die Batterie schwächer wurde, ließen die Effekte nach. Aber ein neuer Zauber begann, der mich erheblich mehr fesselte, obwohl sein unmittelbarer Ertrag unscheinbar, ja geradezu dürftig war. Tatsächlich war die Energie der Batterie so schnell aufgebraucht, daß ihre Kraft nicht einmal mehr hinreichte, die Gegenstände zu erhellen, auch nicht solche, die sich in meiner Nähe befanden. Ja, das Licht war so matt geworden, daß es nur noch die Taschenlampe selbst erleuchtete, also die kleine Birne zum Aufglimmen brachte. Es zeigte sich, daß ich am allmählichen Verschwinden des Lichts in der Birne größere Freude hatte als an den hell angestrahlten Möbeln in einem dunklen Zimmer.
Es war ein eigenartiges, schwer definierbares Vergnügen, dabei zuzuschauen, wie das schummrige Licht der Taschenlampe mehr und mehr nachließ, bis es eines Tages ganz verlöschte. Ich legte die Taschenlampe (für die Anschaffung einer neuen Batterie hatte ich kein Geld) in irgendeine Kiste und vergaß sie wochenlang.
Eines Tages, durch Zufall, nahm ich die Taschenlampe wieder in die Hand (wie wunderbar ist es, sich die paar Sachen, die man als Kind besitzt, dann und wann durch die Hände gleiten zu lassen); ich knipste sie an, und obwohl ich ein paar Wochen zuvor mit eigenen Augen gesehen hatte, daß die Batterie nichts mehr hergab, sah ich jetzt, daß die kleine Birne wieder aufleuchtete, nicht übermäßig aber doch deutlich. Das heißt, die Batterie hatte in den Wochen, in denen sie nicht beansprucht worden war, neue Energie angesammelt, nicht viel, aber immerhin. Ich wiederholte das Experiment in mehreren, langsam länger werdenden Intervallen, und jedesmal trat dasselbe Ergebnis ein: die Batterie wurde zwar insgesamt allmählich schwächer, aber sie leerte sich nicht vollständig. Immer wieder glomm ein Lichtrest auf und erinnerte an sein eigenes früheres Strahlen. Ich bemerkte damals nicht, daß ich die Batterie bereits nachahmte, das heißt daß die Art meiner Aufmerksamkeit selber batterieförmig wurde. Indem ich damit rechnete, daß sich die Batterie nicht völlig leerte, entstand in mir selber die Wirkungsweise einer Batterie: meine Erwartung wurde nie völlig leer, sie rechnete mit der Rückkehr eines mich mehr und mehr rührenden Aufleuchtens. Unser endloses Betrachten verwandelt uns selbst in einen Energieträger, der mit der Zeit ein wenig mysteriös oder diffus wird, weil seine Batterie nicht oder erst sehr spät preisgibt, wofür wir seine Speicherungen eigentlich brauchen. Das übrigbleibende Licht ist eine Spur, die Rührung erzeugt, weil sie so lange im Zustand des Verschwindens verharrt. Erst sehr viel später habe ich erkannt, daß in dieser mehr und mehr flackerig werdenden Selbstverharrung ein poetisches Moment liegt, das derjenige entdeckt, in dessen Betrachten selbst die Wirkweise einer Batterie eingewandert ist. Das schwächer werdende Licht in der Taschenlampe spielte vor meinen Augen mit seinem eigenen und (irgendwann) endgültigen Verschwinden. Das Moment der angehaltenen Auflösung macht den Betrachter momentweise zu einem Retter zu einem Retter von etwas, das geheimhält, wovor es gerettet worden ist. Wir können sagen: Im Verschmelzen des Wirklichen mit seiner eigenen Auflösung ereignet sich die Selbstschöpfung des Poetischen. In unserem Beispiel: Das Poetische entsteht, wenn Zeit (etwa in einer Taschenlampe) künstlich gestaut wird, indem etwas, das die Sphäre des Nützlichen und Brauchbaren hinter sich gelassen hat, dennoch aufbewahrt wird und durch einen Betrachter wieder entstaut wird. Mit anderen Worten: Herrenlos gewordene Zeit wird an ihren zufälligen Entdecker abgegeben. Im Prinzip staut sich in allen Gegenständen, in kleinen und in großen, die Zeit, sofern mit den Gegenständen nichts geschieht, das heißt wenn sie unbearbeitet längere Zeit herumstehen oder herumliegen und zu verrotten scheinen. Wer kurz nach der Wende nach Ostdeutschland gefahren ist, konnte dort sehr gut sehen, wie in vielen Halb- und Ganzruinen, in denen die Einschußlöcher und die Zerstörungsverwitterung des Zweiten Weltkriegs noch immer das zentrale Sehmoment waren, sich seit Kriegsende die Zeit gestaut hatte und zu einer explosiven Empfindungsmixtur wurde, an der die DDR womöglich zugrunde gegangen ist: die Melancholie der allzu lange (und öffentlich) gestauten Zeit ließ sich nicht mehr in angemessener Weise entstauen. Die nicht mehr abbaubare Melancholie ging sowohl auf die Staatsorgane als auch auf die Bewohner des Staates über und führte zu einer nicht mehr aufhebbaren Agonie.
Uns interessiert hier nur der Zeitstau in unscheinbaren Gegenständen, deren Agonie keinen öffentlichen Schaden anrichtet. Im Gegenteil, sie führen allenfalls bei ihren Betrachtern zu poetischen Epiphanien, die nur in deren Innenwelt eine Rolle spielen. Ich werde mich also mit nichtswürdigen, bedeutungsvollen Kleinteilen beschäftigen, das heißt mit alten Fotos (mit eigenen und fremden), mit Koffern und ähnlichen Behältnissen (also mit Taschen, Schachteln, Dosen, Etuis), dann mit Schubladen und Kleidung, ferner mit einer Großgruppe nicht rubrizierbarer Einzeldinge, deren gemeinsames Merkmal ist, daß sie im Alltagsgebrauch auftauchen und dort gewöhnlich auch untergehen und weggeworfen oder eben (und das ist der interessantere Fall) nicht weggeworfen werden; also, zum Beispiel mit Brillen, Rabattmarkenheftchen, Knöpfen, Orden, Schlüsseln, Münzen, Nadeln, Scheren und so weiter.