Oliver Plaschka, geboren 1975 in Speyer, promovierte an der Universität Heidelberg und arbeitet als freier Autor und Übersetzer. Sein Debüt »Fairwater« wurde 2008 mit dem Deutschen Phantastikpreis ausgezeichnet. Mit seinem zweiten Roman »Die Magier von Montparnasse« erreichte er viele begeisterte Leser phantastischer Literatur.
Leseprobe. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten.
Vor dem Fall - Rue de la Gaité, 26.9.1926
Die Ereignisse jenes Sonntags im September, die in ein solches Tohuwabohu münden sollten, dass später niemand seine Verwicklung in sie eingestehen mochte (besonders nicht die Mitglieder der Société Silencieuse), entzündeten sich an einer unbedeutenden Kleinigkeit, welche sich unglückseligerweise gerade zum Abschluss unserer sonst recht erfolgreichen Reihe von Vorstellungen im Bobino zutrug.
Ein Engagement im Bobino konnte man zu dieser Zeit getrost als Krönung einer jungen Karriere bezeichnen. Ich weiß nicht, was Blanche - ich bin in Geschäftsdingen nicht erfahren - Philbert, dem Direktor, versprochen hatte, der aus dem übergroßen Café gerade erst wieder ein Varieté gemacht hatte, wie es bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts eines gewesen war. Allerdings war mein Eindruck, dass von all den Menschen, die in diesen verrückten Jahren nach Montparnasse strömten, allenfalls ein Zehntel ernsthaft am Talent der Künstler interessiert war, die hier ihr Refugium gefunden hatten. Die übrigen neun waren gekommen, um nackte Brüste und fliegende Beine zu sehen - und dann erklären Sie mal einem Varietédirektor, weshalb er einen altmodischen Zauberkünstler wie Sie engagieren sollte.
Wir bekamen eine ganze Woche. Blanche kam freudestrahlend aus Philberts Büro und wedelte aufgeregt mit einem Blatt Papier, auf dem die Grundzüge unseres Programms festgehalten waren, wie wir es voriges Jahr auf den Kleinbühnen Montmartres gespielt hatten. Nicht allzu verwunderlich, dass die Hälfte der Tricks nun durchgestrichen und durch andere ersetzt war. Kopfschüttelnd überflog ich die neue Liste. Amor vincit omnia , stand in Blanches schwungvoller Mädchenschrift darüber.
»Das ist unser neues Programm«, verkündete sie und umarmte mich.
»Bei allen Geistern, Blanche«, wand ich mich, »viele dieser Nummern haben wir noch nie hinbekommen! Wieso hast du ihm nicht gleich den indischen Seiltrick verkauft?«
Sie legte die Stirn in Falten, als schmolle sie. Der indische Seiltrick endete traditionell mit der Verstümmelung der Assistentin, und es gab sehr geteilte Auffassungen darüber, ob es überhaupt möglich war, ihn mehr als einmal aufzuführen.
»Vertrau deinen Fähigkeiten, Ravi«, redete sie mir zu. »Wir schaffen das, wenn wir uns Mühe geben. Die Liebe besiegt alle Hindernisse!«
Ich seufzte. Meine Fähigkeiten waren nicht das Problem. Das Problem war, den Leuten einen Trick zu verkaufen. Keine echte Magie. Blanche wusste das sehr gut, doch Menschen das Unmögliche glauben zu machen, ohne das Unmögliche zu vollbringen, war genau das, was sie an unserem Beruf so liebte. Ich wäre ohne sie völlig hilflos gewesen.
»Wir müssen sofort die Liste durchgehen«, entschied ich, und so machten wir uns an die Arbeit.
Die kleineren Wünsche Philberts waren leicht zu berücksichtigen. Blanche kürzte ihr Kleid an den entscheidenden Stellen, und die Show wurde noch mehr zu ihrer als meiner. Mir machte das nichts; der Zauberer sollte auf der Bühne Ruhe ausstrahlen, so dass man ihm im entscheidenden Moment vertraut, und je mehr Aufmerksamkeit auf seiner Assistentin liegt, um so besser. Wir bekamen ein kleines Orchester - ein Streichquartett, ein Schlagzeug, der Ablenkung zuliebe, und eine Klarinette für die Schlange - sowie einige Bühnenarbeiter, die sich um die komplexen Lichteffekte kümmerten. Die Arbeiter unterschrieben alle einen Vertrag, dass sie kein Wort über das verlieren durften, was sie hinter dem Vorhang erlebten. Dasselbe galt für die beiden ägyptischen Tänzerinnen, die wir für den letzten Auftritt benötigten und die natürlich nicht aus Ägypten stammten. Mir behagte das Ganze nicht; ich hatte nie mit anderen Assistenten als mit Blanche gearbeitet. Aber für Romeo und Julia im Land der Pharaonen waren sie unabdingbar. »Wer sonst sollte dich in dein Grab sperren, wenn ich nicht mehr bin?«, witzelte Blanche. Ich persönlich hielt die Nummer für eigensinnig und gefährlich.
Ich liebe die leisen Töne der Bühnenmagie. Ich habe jahrelang den Trick mit den sich verhakenden Ringen geübt, bis niemand mehr den Moment sah, in dem sie ineinander glitten. Ich habe ein gutes Händchen für Mentalistenstücke - die richtige Karte aus einem Stapel zu ziehen, oder mir den Inhalt eines Zettels aus dem Publikum zu merken, während ich so tue, als lese ich den vorherigen vor; mit dem richtigen Tempo, der richtigen Musik und der richtigen Assistentin können Sie die Aufmerksamkeit des Publikums für Stunden fesseln, und Sie brauchen kaum mehr als einen Hut und ein wenig Spielzeug dafür. Es ist faszinierend, wie selten Menschen an das Offensichtliche denken; sie freuen sich, drei Seiten eines Kastens solide zu wissen, und fragen gar nicht erst nach der vierten, die immer von ihnen abgewandt ist. Menschen können sich vorstellen, dass ein Magnet an einem Gummiband im Ärmel hängt, aber nicht, dass dieses Band wiederum von einem unsichtbaren Faden am Finger des Zauberers betätigt wird. Und sie schwören Stein und Bein, dass Sie sie nie berührt haben, keine zwei Minuten, nachdem Sie ihnen bei der Begrüßung beiläufig die Hand gaben.
Philbert aber wollte nur die lauten Töne - je schriller, desto besser. Die Männer, die sich überlegten, ob sie ihren Lohn nicht eher für einen Abend im Jockey mit Kiki oder eine Zechtour am Carre-four Vavin sparen sollten, wollten Blanche und mich von Speeren und Schwertern durchbohrt sehen, sie wollten Flammen und Blitze, Elefanten und Strauße, und zehn nackte Tänzerinnen dazu; und Philbert wollte ihr Geld, und zwar mehr als alles andere.
Also übten wir.
Wir nutzten die Möglichkeiten, die das Bobino uns bot, und ersetzten den alten Schwebetrick, bei dem Blanche unter wehenden Tüchern verschwand, durch die eindrucksvollere Variante, bei der Gesicht und Füße unbedeckt blieben und sie nicht von mir, sondern einer Mechanik hinter dem Vorhang in die Luft gehoben wurde. Blanche mochte diesen Trick wegen des Märchenkleides, das sie dazu trug und das sie wie die schlafende Prinzessin Perraults aussehen ließ, und ich freute mich, mein Geschick mit dem Reifen unter Beweis stellen zu können. Eine Hebebühne kann jeder betätigen; es aber so aussehen zu lassen, als kreise ein Reifen um eine schwebende Frau, erfordert etwas mehr Geschick.
Die Hypnotisierte steigt empor und wieder herunter, dann lässt der Prinz von dem Spiel ab, küsst sein Dornröschen, und sie erwacht.
Das Publikum nahm Philberts Änderungen dankbar auf, und mit den Einnahmen stieg seine Stimmung. Wir für unseren Teil versuchten, die Not zur Tugend zu machen, und Philberts Liebe zum Kitsch eine Reise durch die Zeitalter als Thema zur Seite zu stellen. Blanche huschte nach fast jedem Trick hinter die Bühne, um sich umzuziehen, und ich unterhielt die Menge mit kleineren Kunststücken, bis ich wieder die Rolle eines Barrikadenstürmers der Julirevolution, eines Höflings des Sonnenkönigs oder eines römischen Tribuns annahm, um ein weiteres Kapitel aus der großen Geschichte zu erzählen, wie zwei Menschen gegen alle Widerstände zusammenfinden.
Mein Lieblingsstück ist das des verzweifelten Malers, der auf einer leeren Bühne ein sehnsuchtsvolles Portrait seiner Liebsten aus dem Gedächtnis malt, während das Streichquartett mit ihm klagt, bis die Angebetete wie aus dem Nichts durch die Leinwand bricht und ihn in die Arme schließt.
Blanches Geschicklichkeit kommt ihr auch als Opfer des finsteren Kerkermeisters zugute, wenn ich Metallplatten durch sie gleiten lasse und bald ihren Kopf zur einen, die Hüfte zur anderen Seite verschiebe. Dieser Trick wird immer gut aufgenommen, weil er eigentlich keiner ist und alles vor den Augen des Publikums geschieht, das nur nicht glauben mag, was es doch sieht.
So lief es also Tag für Tag, und selbst die unsägliche Land-der-Pharaonen-Nummer klappte entgegen meiner Befürchtungen sechs Mal in...
Prolog. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten.
Vor dem Fall - Rue de la Gaité, 26.9.1926
Die Ereignisse jenes Sonntags im September, die in ein solches Tohuwabohu münden sollten, dass später niemand seine Verwicklung in sie eingestehen mochte (besonders nicht die Mitglieder der Société Silencieuse), entzündeten sich an einer unbedeutenden Kleinigkeit, welche sich unglückseligerweise gerade zum Abschluss unserer sonst recht erfolgreichen Reihe von Vorstellungen im Bobino zutrug.
Ein Engagement im Bobino konnte man zu dieser Zeit getrost als Krönung einer jungen Karriere bezeichnen. Ich weiß nicht, was Blanche - ich bin in Geschäftsdingen nicht erfahren - Philbert, dem Direktor, versprochen hatte, der aus dem übergroßen Café gerade erst wieder ein Varieté gemacht hatte, wie es bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts eines gewesen war. Allerdings war mein Eindruck, dass von all den Menschen, die in diesen verrückten Jahren nach Montparnasse strömten, allenfalls ein Zehntel ernsthaft am Talent der Künstler interessiert war, die hier ihr Refugium gefunden hatten. Die übrigen neun waren gekommen, um nackte Brüste und fliegende Beine zu sehen - und dann erklären Sie mal einem Varietédirektor, weshalb er einen altmodischen Zauberkünstler wie Sie engagieren sollte.
Wir bekamen eine ganze Woche. Blanche kam freudestrahlend aus Philberts Büro und wedelte aufgeregt mit einem Blatt Papier, auf dem die Grundzüge unseres Programms festgehalten waren, wie wir es voriges Jahr auf den Kleinbühnen Montmartres gespielt hatten. Nicht allzu verwunderlich, dass die Hälfte der Tricks nun durchgestrichen und durch andere ersetzt war. Kopfschüttelnd überflog ich die neue Liste. Amor vincit omnia , stand in Blanches schwungvoller Mädchenschrift darüber.
»Das ist unser neues Programm«, verkündete sie und umarmte mich.
»Bei allen Geistern, Blanche«, wand ich mich, »viele dieser Nummern haben wir noch nie hinbekommen! Wieso hast du ihm nicht gleich den indischen Seiltrick verkauft?«
Sie legte die Stirn in Falten, als schmolle sie. Der indische Seiltrick endete traditionell mit der Verstümmelung der Assistentin, und es gab sehr geteilte Auffassungen darüber, ob es überhaupt möglich war, ihn mehr als einmal aufzuführen.
»Vertrau deinen Fähigkeiten, Ravi«, redete sie mir zu. »Wir schaffen das, wenn wir uns Mühe geben. Die Liebe besiegt alle Hindernisse!«
Ich seufzte. Meine Fähigkeiten waren nicht das Problem. Das Problem war, den Leuten einen Trick zu verkaufen. Keine echte Magie. Blanche wusste das sehr gut, doch Menschen das Unmögliche glauben zu machen, ohne das Unmögliche zu vollbringen, war genau das, was sie an unserem Beruf so liebte. Ich wäre ohne sie völlig hilflos gewesen.
»Wir müssen sofort die Liste durchgehen«, entschied ich, und so machten wir uns an die Arbeit.
Die kleineren Wünsche Philberts waren leicht zu berücksichtigen. Blanche kürzte ihr Kleid an den entscheidenden Stellen, und die Show wurde noch mehr zu ihrer als meiner. Mir machte das nichts; der Zauberer sollte auf der Bühne Ruhe ausstrahlen, so dass man ihm im entscheidenden Moment vertraut, und je mehr Aufmerksamkeit auf seiner Assistentin liegt, um so besser. Wir bekamen ein kleines Orchester - ein Streichquartett, ein Schlagzeug, der Ablenkung zuliebe, und eine Klarinette für die Schlange - sowie einige Bühnenarbeiter, die sich um die komplexen Lichteffekte kümmerten. Die Arbeiter unterschrieben alle einen Vertrag, dass sie kein Wort über das verlieren durften, was sie hinter dem Vorhang erlebten. Dasselbe galt für die beiden ägyptischen Tänzerinnen, die wir für den letzten Auftritt benötigten und die natürlich nicht aus Ägypten stammten. Mir behagte das Ganze nicht; ich hatte nie mit anderen Assistenten als mit Blanche gearbeitet. Aber für Romeo und Julia im Land der Pharaonen waren sie unabdingbar. »Wer sonst sollte dich in dein Grab sperren, wenn ich nicht mehr bin?«, witzelte Blanche. Ich persönlich hielt die Nummer für eigensinnig und gefährlich.
Ich liebe die leisen Töne der Bühnenmagie. Ich habe jahrelang den Trick mit den sich verhakenden Ringen geübt, bis niemand mehr den Moment sah, in dem sie ineinander glitten. Ich habe ein gutes Händchen für Mentalistenstücke - die richtige Karte aus einem Stapel zu ziehen, oder mir den Inhalt eines Zettels aus dem Publikum zu merken, während ich so tue, als lese ich den vorherigen vor; mit dem richtigen Tempo, der richtigen Musik und der richtigen Assistentin können Sie die Aufmerksamkeit des Publikums für Stunden fesseln, und Sie brauchen kaum mehr als einen Hut und ein wenig Spielzeug dafür. Es ist faszinierend, wie selten Menschen an das Offensichtliche denken; sie freuen sich, drei Seiten eines Kastens solide zu wissen, und fragen gar nicht erst nach der vierten, die immer von ihnen abgewandt ist. Menschen können sich vorstellen, dass ein Magnet an einem Gummiband im Ärmel hängt, aber nicht, dass dieses Band wiederum von einem unsichtbaren Faden am Finger des Zauberers betätigt wird. Und sie schwören Stein und Bein, dass Sie sie nie berührt haben, keine zwei Minuten, nachdem Sie ihnen bei der Begrüßung beiläufig die Hand gaben.
Philbert aber wollte nur die lauten Töne - je schriller, desto besser. Die Männer, die sich überlegten, ob sie ihren Lohn nicht eher für einen Abend im Jockey mit Kiki oder eine Zechtour am Carre-four Vavin sparen sollten, wollten Blanche und mich von Speeren und Schwertern durchbohrt sehen, sie wollten Flammen und Blitze, Elefanten und Strauße, und zehn nackte Tänzerinnen dazu; und Philbert wollte ihr Geld, und zwar mehr als alles andere.
Also übten wir.
Wir nutzten die Möglichkeiten, die das Bobino uns bot, und ersetzten den alten Schwebetrick, bei dem Blanche unter wehenden Tüchern verschwand, durch die eindrucksvollere Variante, bei der Gesicht und Füße unbedeckt blieben und sie nicht von mir, sondern einer Mechanik hinter dem Vorhang in die Luft gehoben wurde. Blanche mochte diesen Trick wegen des Märchenkleides, das sie dazu trug und das sie wie die schlafende Prinzessin Perraults aussehen ließ, und ich freute mich, mein Geschick mit dem Reifen unter Beweis stellen zu können. Eine Hebebühne kann jeder betätigen; es aber so aussehen zu lassen, als kreise ein Reifen um eine schwebende Frau, erfordert etwas mehr Geschick.
Die Hypnotisierte steigt empor und wieder herunter, dann lässt der Prinz von dem Spiel ab, küsst sein Dornröschen, und sie erwacht.
Das Publikum nahm Philberts Änderungen dankbar auf, und mit den Einnahmen stieg seine Stimmung. Wir für unseren Teil versuchten, die Not zur Tugend zu machen, und Philberts Liebe zum Kitsch eine Reise durch die Zeitalter als Thema zur Seite zu stellen. Blanche huschte nach fast jedem Trick hinter die Bühne, um sich umzuziehen, und ich unterhielt die Menge mit kleineren Kunststücken, bis ich wieder die Rolle eines Barrikadenstürmers der Julirevolution, eines Höflings des Sonnenkönigs oder eines römischen Tribuns annahm, um ein weiteres Kapitel aus der großen Geschichte zu erzählen, wie zwei Menschen gegen alle Widerstände zusammenfinden.
Mein Lieblingsstück ist das des verzweifelten Malers, der auf einer leeren Bühne ein sehnsuchtsvolles Portrait seiner Liebsten aus dem Gedächtnis malt, während das Streichquartett mit ihm klagt, bis die Angebetete wie aus dem Nichts durch die Leinwand bricht und ihn in die Arme schließt.
Blanches Geschicklichkeit kommt ihr auch als Opfer des finsteren Kerkermeisters zugute, wenn ich Metallplatten durch sie gleiten lasse und bald ihren Kopf zur einen, die Hüfte zur anderen Seite verschiebe. Dieser Trick wird immer gut aufgenommen, weil er eigentlich keiner ist und alles vor den Augen des Publikums geschieht, das nur nicht glauben mag, was es doch sieht.
So lief es also Tag für Tag [...]