Der vorliegende Band hat tatsächlich so ein wenig Literaturgeschichte geschrieben. Ulla Hahn, die Herausgeberin, hat es auf einer Tagung zu Gertrud Kolmar, die 2010 in Weimar stattfand, noch einmal betont. Der kleine Suhrkampband hat Kolmar den Weg zurück aufs Klassikerinnenpodest der literarischen Moderne ein Stück geebnet. Denn wer in dieser Bücherreihe erscheint, der oder die ist schon wer.
Gertrud Kolmar ist eine Dichterin, an deren Dichtung sich so viel zum Leben einer Frau, einer Jüdin, einer modernen Dichterin und einer Berlinerin im 20. Jahrhundert lernen lässt, dass ich fast versucht bin, diese Rezension des Bändchens in soundsoviele Zwischenkapitel zu unterteilen. Versuchen wir's.
Die Moderne
Die Tagung zu Kolmaar in Weimar im Jahr 2010 hat gezeigt, dass wir - entgegen der Absicht dieser akademischen Großveranstaltung - noch einige Probleme haben, dieser Dichterin gerecht zu werden. Es fiel auf - und das war in der Tat komisch - dass sich die meisten Gelehrten und Professorinnen, auch die Dichter und Dichterinnen - darum herumdrückten, Kolmar zu zitieren. Es war viel über ihre Gedichte zu hören, die Gedichte selbst oder Zitate daraus selten. Kolmar schreibt, so scheint es, oft eher mit der Schraubzwinge als mit der Feder. Ihre Gedichte greifen weit aus: da ist zum Beispiel eines in dem hier zu besprechenden Bändchen, in dem die Dichterin gnadenlos alle Materialien in und an einem Haus in ihren Naturzustand zurückwachsen lässt, um ihnen so die Würde ihrer ungeformten, unbegrenzten Naturhaftigkeit zurückzugeben. In anderen Gedichten erstreckt sich - wie es übrigens bei einigen sich selbst findenden und in ihrer Identität als vollwertige Menschen bestätigenden Dichterinnen der beginnenden Moderne der Fall ist, etwa Edna St Vincent Millay - erstreckt sich also der Körper der weiblichen Sprecherin des Gedichtes über die ganze Welt. Überhaupt nennt Kolmar einen ihrer Gedichtzyklen "Welten", was ja als Gegenstand des lyrischen Sangs nicht gerade zimperlich gewählt ist. Das wirkt hart, zusammengezwungen, willkürlich - bis die Leser_in dahinterkommt, dass tatsächlich vieles in der Welt hart, zusammengezwungen und willkürlich wirkt oder es ist. Und oft verschleiert unsere kulturelle Gebundenheit an den Augenblick gerade die Härte und Exzentrik unserer Lebensbedingungen. Es ist schon so: Ohne das Erz im Berg mit all dem Dreck und dem Feuer und der Plackerei, diei vonnöten sind, es zu bergen und zu schmelzen, hätten wir keinen Suppenlöffel im Mund. Und wer wollte bezweifeln, dass Menschen im zwanzigsten Jahrhundert schematisch und systematisch geschlachtet wurden wie Tiere. Und dies auch immer noch werden. Die Brutalität der Erlebniswelt Kolmars, die sie uns mit einer ebenso brutalen Sprache aufbricht (vorgestellte Genitive und Präsens-Partizipien zuhauf, schön ist das nicht, aber es ergibt eine harte Fügung) dass diese Erlebniswelt aus genau dem Stoff gemacht ist, in den die Opfer der Shoa und somit auch Kolmar, zuallervörderst verwickelt wurden. Genau aus diesem Drang, unausprechlich Grauenhaftes, Trauerbeladenes, Bedrohliches sowie eben auch formlos Giganteskes auszudrücken, entsteht in den in diesem Bändchen vereinten Gedichten eine Sprache der expressionistischen Moderne, die ihres gleichen sucht - und vermutlich nie finden wird. Günter Kunert und auch Ulla Hahn, die in Kolmar Konventionalität beziehungsweise Traditionalität hineinlasen, sollten sich was schämen. Das hier ist vintage heißer Modernismus.
Die Frau
Der zweite Grund, aus dem es weder Ulla Hahn im Nachwort zu diesem Band noch den Teilnehmer_innen der Weimarer Tagung zu Kolmar gelang, einen konkreten Zugang zur Dichterin zu finden, war die Tatsache, dass Kolmar eine Frau ist, der es radikal gelingt, das Normalste von der Welt für eine normale Frau im normalen Berlin des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts auszudrücken. Das Normalste war, dass Frauen demoralisiert wurden und sich in sich zurückzogen, anstatt Dichterfürsten zu werden. Das Normalste war, dass junge Frauen, die mit unehelich gezeugten Kindern schwanger waren, von der ehrenwerten Familie gezwungen wurden, den psychisch und physisch bis ins Innerste zerstörerischen Vorgang der Abtreibung an sich vornehmen zu lassen. Das Normalste ware, von einem Mann sitzengelassen zu werden, wenn frau schwanger war. Das Normalste waren subalterne Sekretärinnenjobs und Höhere-Töchter-
Ausbildung für brillante Frauen. All dies machte auch das Leben Gertrud Kolmars aus, und mensch kann nur vermuten, dass den versammelten Germanistinnen damals 2010 in Weimar diese beredte Klage unerträglichen Frauenschicksals zu nah an die Leber ging, weshalb sie noch nicht einmal zum Buch griffen um hier und da zu zitieren. Denn dann hätten sie den Horror der Misogynie im Rezitieren Kolmarscher Gedichte noch einmal miterleben müssen. So wie in diesem hier, in dem Kolmars durch Abtreibung ausgelöstes PTBS anzuklingen scheint:
"Ich sehe. Ich fühle:
Durch die verschlossene Tür tritt lautlos
Ein Kind.
Das einzige, das mir zugestimmt und das ich nicht geboren.
Nicht geboren um meiner Sünde willen; Gott ist gerecht.
Und ich schweige, und murre nicht, ich trage und berge das Haupt, und so darf ich es suchen Manchen Abend." (Fruchtlos, S.131)
Oder, im Gedicht "Garten im Sommer", in dem der verflossene Geliebte der Sprecherin ihr unter Wasser ein Meerjungkind zeugt:
"Du, ich bebe . . .
Wenn ich empfinge: mein Kind trüge Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehn, trüge Muscheln und Wasserlinsen seltsam in immer triefenden Haaren.
Kehr ans Ufer . . . Spötter!"
Übrigens ist dieses Gedicht fast das einzige im Band, das die mit Keulen zusammengehauene Expressionistinnensprache Kolmars, die ihren Ruhm begründet, durch ein weiches wellenspielendes Parlando ablöst. Die Leser_in kann die Sprecherin - bzw. Gertrud - fast körperlich genau mit ihrem wollbrustigen Liebhaber in den Wellen spielen sehen. Für Kolmar war Sprache eben ein Instrument, das dem Gedichtsinn virtuos angepasst wurde.
Die Frankophone
Hélas, Kolmar hat es den deutschen Germanist_innen schon nicht leichtgemacht. Der vorliegende Lyrikband enthält einige der Gedichte, die Kolmar, die sich intensiv und professionell mit dem Französischen auseinandergesetzt hatte, dem Oberrevolutionär Robespierre widmete. Selten habe ich das Dilemma des guten Revolutionärs, der verworfen werden muss, wenn er gut ist, und der stirbt und verachtet wird, WEIL er effektiv ist, so pointiert in Sprache übersetzt gesehen. Kolmar steht auf der Seite derer, die Robespierres Terrorherrschaft für notwendig erachteten. Und Mehrheitsdeutsche wären darüber vielleicht weniger verwundert, wenn sie wüssten, dass die französische Revolution den Grundstein für ein dann unter Napoleon judenfreundlicheres Frankeich schuf. Auch Heine betonte schon, dass ihm Frankreich lieber sei als Deutschland, wenn er sich die Situation der Juden und Jüdinnen besehe. Natürlich lebte der Antisemitismus dann in der Dreyfus-Affäre, die unter anderem Zola das Leben kostete, schrecklich wieder auf. Aber, so wie Ulla Hahn es im Nachwort des vorliegenden Bandes macht, Kolmar jegliche geschichtliche Expertise abzusprechen, nur weil diese R., den Tugendhaften, nicht zum Monster erklärt, ist einigermaßen herablassend und mit wenig Wissen zum deutschen Judentum geschrieben.
Alles in allem ...
Kolmar lohnt das Studium. Oder, um es in Kolmarscher Grammatik zu sagen - Der Kolmar Studium, bereichernd ist es der Lesenden und dem Mann. Und dieses Büchlein (das mit 172 Gedichtseiten ein ausgewachsener Lyrikband ist) sei als probater Einstieg empfohlen.
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