Ich wurde in Ulm geboren, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Ich war damals, neunzehnhunderteinundsiebzig, noch sehr sehr klein.
Wie Stuttgart war, weiß ich. Wie es für mich war, zumindest, in der Robert-Leicht-Straße.
Robert Leicht war Brauereidirektor, und als ich Kind war, roch Stuttgart-Vaihingen tatsächlich noch nach Hefe manchen Tags. Anderntags auch nach Maracuja, wegen der Fruchtsaftfabrik.
Gerüche und zu wissen, wie’s für einen selbst war, ist gut für die Prosa. Die Vita will Fakten. Die kriegt sie auch.
Fakten tun so, als seien sie nicht auslegbar, entwickelten kein Eigenleben im Kopf desjenigen, der sie liest.
Abitur und Umzug nach Berlin. Ha! Wenn das nicht offen für Interpretationen ist – neunzehnhunderteinundneunzig zumal. Ich wohnte in Charlottenburg und trotzdem – ja, auch da! – roch es neu und fremd für mich nach Braunkohle.
Studium am Literaturinstitut in Leipzig. Ein Ausflug mit den Professoren Hartinger und Haslinger zur Braunkohleabbruchkante nahe Liebertwolkwitz. Was wir da wollten? Gucken, schätz ich mal.
Ich bin oft umgezogen. Auch geflohen oder genötigt worden. Einmal wurde über Nacht ein nichtgenehmigtes Badezimmerfenster von außen zugemauert – was nicht so schlimm war, ich kannte fensterlose Bäder.
Eine Vita anhand der Badezimmer – oder auch der nicht vorhandenen Badezimmer – erzählen. Anhand der Heizungen, Vorhangstangen, Treppenhausgeländer. Entlang der Such- und Flucht- und Abbruchbewegungen, wäre das was?
Keiner war je da, wo er herkam oder hingehörte, Heimat, Herkunft, Zugehörigkeit gab’s trotzdem. Bali sieht aus wie die Schwäbische Alb.
Meine Kinder sind alle in Berlin-Kreuzberg geboren. Meine Eltern – als meine Eltern – kamen auch von dort, aus der Mariannenstraße. Drei, vier Fotos gibt’s noch, auf ihnen erkenne ich meine Eltern allerdings nicht wieder. Eltern erkennt man – so hat’s die Natur wohl eingerichtet – in den ersten paar Wochen allein am Geruch.
Und Kreuzberg ist weit offen für Interpretationen!
„Du verpasst es, und ich auch“, hat mein Vater später in Stuttgart in einem Gedicht geschrieben. Eine Vita anhand dessen schreiben, was man auf keinen Fall verpasst haben will?
Neunzehnhundertfünfundneunzig stand ich mit József, meinem damaligen Freund, auf einem abschüssigen Grundstück in Südungarn. Es war seines, er hatte es sich verdient, indem er Bücher verkauft hat vor der FU. Darauf ein Haus bauen!, ich war nicht mehr dabei, als er’s schließlich getan hat.
Ich bin Schriftstellerin geworden. Klingt komisch in meinen Ohren, ist aber Fakt. Es gibt ein Diplom, eine Liste von Veröffentlichungen, jährliche Steuerbescheide. Stipendien und Preise. Leser*innenreaktion. Oh ja!, es gibt ein Werk. Ganz weit offen für Interpretationen.
Wo ich momentan wohne, wird sechs Tage die Woche von früh morgens an gebaut.