Der blaue Reiter im Lenbachhaus München
Das Herz des Expressionismus

Natürlich waren sie auch Konkurrenten. Jeder Künstler träumt letztlich vom Erfolg. Aber es ist heute noch geradezu rührend zu lesen, wie sich die doch sehr unterschiedlichen Maler aus dem Kreis des Blauen Reiter um Freundschaften bemüht haben. Wie die aufmerksamsten Briefe und Einladungen hin und her gingen, Ermutigungen genauso wie Frotzeleien, und jeder aus den gegenseitigen Besuchen seine Inspiration zog: in München wie 70 Kilometer weiter südlich in Murnau, wo man sich – angesteckt von der idyllischen Natur und deren eindringlichen Farben – ganz auf eine neue Kunst konzentrieren konnte. Im Münchner Lenbachhaus sind diese Zusammenhänge, das Geben und Nehmen zwischen Franz Marc, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter oder August Macke nun noch besser nachzuvollziehen.
Die Städtische Galerie besitzt die umfangreichste und bedeutendste Sammlung an Reiter-Werken, man kann also aus dem Vollen schöpfen und immer wieder neue Akzente setzen. Selbstredend rund um Ikonen wie Marcs berühmtes "Blaues Pferd", Alexej Jawlenskys Porträt des androgynen Tänzers Alexander Sacharoff in zinnoberroter Robe oder den "Zoologischen Garten" (1912) von August Macke. Und sowieso Kandinskys farbstarke "Improvisationen" aus der Zeit von 1909 bis 1914, als er mit Gabriele Münter zusammen war. Ihr verdankt das Lenbachhaus den größten Teil seines populären Schatzes.
Dazu gehören etwa die zahlreichen kleinen neoimpressionistischen Ölstudien, die das Paar zwischen 1903 und 1908 auf den Reisen durch Frankreich, Tunesien oder Italien gemalt hat. Nichts Spektakuläres, aber die Palette wird schon gewagter, auch ein Hang zur Abstraktion ist auszumachen. Und dann überrascht doch die Rasanz der Entwicklung in Murnau, wo Kandinsky und in der Folge auch Münter um 1908/09 zu einfachsten Formen finden, während die Farben nur so explodieren.

Abstraktion und Reduktion wirken offenbar ansteckend
Das steckt gleichermaßen Jawlensky und dessen Gönnerin und Lebensgefährtin Marianne von Werefkin an. Er ist auf dem Weg zu einer radikalen Reduktion, an deren Ende seine bekannten Gesichter stehen, Ikonen eines entweihten Jahrhunderts, die er alsbald nur mehr als "Meditationen" bezeichnet. Sie malt sich 1910 mit feuerglühenden Pupillen auf gefährlich türkisen Augäpfeln, und man sieht schon, die Russin war eine dominante Person.
Überhaupt sind die Frauen nicht nur schmückendes Beiwerk. Auch Marcs Frau Maria greift zum Pinsel, wenngleich die gelernte Malerin dann vor allem ihren Franz umsorgt. Der mit sich hadernde, vergrübelte Tierliebhaber – übrigens der einzige Münchner der Gruppe – wird 1910 durch die Begegnung mit dem spontanen, unbekümmerten August Macke aus der Reserve gelockt und entdeckt mit dem sieben Jahre jüngeren "Augenmenschen" die Farbe.

Kandisky und Marc fungieren bald als Cheftheoretiker des Blauen Reiter
Dass Kandinsky, der zweite wichtige Freund, 1911 in Marcs Leben tritt, führt dann zur Formierung des Blauen Reiter. Enerviert von den Streitereien in der Neuen Künstlervereinigung München machen sich die beiden Cheftheoretiker an die legendäre Grundsatzschrift: den Almanach. Der wird gerne zitiert, kaum jemand liest ihn. Dabei steckt in dieser vielleicht wichtigsten Programmschrift zur Kunst des 20. Jahrhunderts eine bis heute kühne Utopie: Es gibt keine Hierarchien, Kinderzeichnungen stehen neben den Meisterwerken der abendländischen Kunst, Ethnografica aus Afrika, Burma oder bäuerliche Hinterglasmalerei zwischen den Bildern des Blauen Reiter. "Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und Völker, sondern Menschheit", heißt es in einem Vorwort-Entwurf zum Almanach, durch den man sich im Lenbachhaus auf einer Touchscreen-Ausgabe blättern kann.
Entsprechendes ist nun auch in der Schausammlung kombiniert. Die indischen Gottheiten Vishnu und Hanuman werden von Kandinskys Heiligem Georg und der "Großen Auferstehung" (beide 1911) flankiert – alle vier hinter Glas. Und neben Münters "Im Zimmer" (1913) hängen zwei Zeichnungen ihrer 10-jährige Nichte Elfriede, die just in der Arbeit der Tante zitiert werden.
Nie mehr war die Kunst in München so modern
Für die nicht ganz typischen Reiter-Positionen darf normalerweise Paul Klee herhalten – von ihm sind vor allem Werke nach der Münchner Zeit ausgestellt wie die pointillierenden "Klippen am Meer" (1931) oder der "Erzengel" (1938). Jetzt überraschen außerdem die schillernden Kostüm- und Bühnenbildentwürfe des eingangs erwähnten Alexander Sacharoff. Oder die frühkubistisch angehauchte "Tänzerin" des russischen Avantgardisten Wladimir Burljuk. Und man wird daran erinnert, dass auch Alfred Kubin mit einer beträchtlichen Anzahl seiner düster-sarkastischen Zeichnungen in der zweiten Reiter-Schau 1912 vertreten war.
Viel Zeit blieb den Freunden nicht. Macke fiel wenige Wochen nach Beginn des Ersten Weltkriegs, Marc, der sich vom tödlichen Kampf noch die große Reinigung und Erneuerung Europas versprach, 1916. Jawlensky musste als Russe emigrieren und zog in die Schweiz. Sein Landsmann Kandinsky, der sich auf dem Höhepunkt seines Schaffens befand, ging zurück nach Moskau und lehrte dann später neben Klee am Bauhaus. Die Helden des Blauen Reiter mögen von den Zeitgenossen belächelt worden sein, aber nie mehr war die Kunst in München so modern – und das auf der Grundlage eines visionären Humanismus.