Beim Nachdenken über Zufälle und darüber, welche Rolle sie im Leben spielen, vergegenwärtige ich mir gerne, wie einer meiner losen Bekannten in einer der unzähligen Bars auf Kreta mit M. zusammentrifft und am Rande des sich entspinnenden Gesprächs bemerkt, dass er jemanden kenne, nämlich mich, mit dem er, M., sich aller Wahrscheinlichkeit nach prächtig verstünde. - - Diese Episode, die sich vor gut einem Jahrzehnt ereignet hat, wäre nicht weiter erzählenswert, wenn ich nicht M. ein paar Monate später wirklich über den Weg gelaufen wäre: In einem österreichischen Hörsaal, ich erinnere mich genau, tippte ich meinen Vordermann an, weil ich etwas wissen wollte. Wir begannen zu plaudern und bald fragte mich M., ob ich der sei, von dem er schon in einem kretischen Lokal gehört habe. - Ich war ertappt!
Aus verschiedenen Gründen hat es eine Zeit gedauert, bis M. und ich Freunde wurden. Eines Tages aber waren wir durch so viele kleine Bande miteinander verknüpft, dass wir diese Freundschaft einfach bewahren wollten. Nun will ich gar nicht leugnen, dass unser Verhältnis zuweilen recht ärgerlich war. Ich meine: Wenn wir auch niemals offen in Streit gerieten, spitzte sich die Lage doch dann und wann bedrohlich zu. Am Ende allerdings stand für uns immer fest (trotz oder gerade wegen des Ringens mit dem Anderen), dass wir Freunde bleiben würden.Eine der unerfreulichen Eigenschaften M.s stellte zweifelsohne der Hang zum Jähzorn dar: (In Wahrheit konnte man nie davor sicher sein, in eines seiner Fettnäpfchen zu treten. Es war lähmend.) Einmal packte ihn die Wut bei einer gemeinsam geplanten Radtour: M. hatte wohl die Strecke unter- oder seine Kräfte überschätzt. Jedenfalls verlor er am Nachhauseweg die Lust und geriet auf den letzten Kilometern, die ihm trotz häufiger Pausen eine einzige Qual waren, in Rage. Schließlich tobte er sich an mir aus und... ...wie soll man sagen: Im Nachhinein betrachtet benahm sich M. damals wie ein Idiot und hätte dafür eine saftige Ohrfeige verdient. Aus welchen Motiven auch immer hat er sie nie bekommen.
Am Abend dieses bezeichnenden Tages, die Sache war lange nicht bereinigt, gingen wir noch aus, um was zu trinken. Wir landeten in einer meiner Lieblingskneipen. Irgendwann nach Mitternacht stand M. auf, ging zur Jukebox und wählte "Perfect day" von Lou Reed. - - Dieser Gesang, diese Stimme, sie gaben dem hiesigen Dunst aus Rauch, Schweiß und Alkohol etwas Heimeliges; versetzten uns in diese angenehm versöhnliche Stimmung. Alles erschien mir plötzlich in einem milderen Licht. Und als Reed so sang und wir beschwipst mitsummten, wusste ich, dass es im Grunde schon o.k. war, mit M. beisammenzusein. (Es kommt nur mehr selten vor, aber wenn ich heute in besagtes Lokal komme, werfe ich für gewöhnlich ein paar Münzen in die noch immer dort stehende Musikbox ein, um "Perfect day" zu hören.)Hermann Maier
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