Frank Apunkt Schneider: SPRUNG ÜBER VIER PFERDE (Palais Schaumburg)
Mit Musik konnte ich nicht viel anfangen. Musik war eine Falle. Das wusste ich aus dem Comic vom Schuhgeschäft, in dem schwungvoll gezeichnete Jugendliche mit dem Mofa auf den Spielplatz bretterten, um eine hässliche neue LP-Hülle zu schwenken: Thin Lizzy. Die anderen stießen weiße Wölkchen aus, in denen »Stark!« stand. Oder »Irre!«
Rockmusik gehörte zur Welt der Schuhgeschäfte. Und der Buchclubs. Immerhin lag der Buchclubladen schräg gegenüber vom Thin-Lizzy-Schuhgeschäft. Er half Leuten, die keine Bücher brauchten, die Regale voll zu kriegen, falls mal Besuch kam. Meine Eltern waren natürlich Zielgruppe. Aber sie verloren schnell die Lust daran, sich viermal im Jahr durch den Katalog zu blättern und der Quartalseinkauf wurde eine meiner Aufgaben im Haushalt, so wie Rasenmähen oder Überweisungen einwerfen. So kam ich zu meiner ersten Platte. Schon als ich reinkam, hatte die Verkäuferin beschlossen, dass sie wusste, was ich will. Sie bugsierte mich zum Plattenfach. »Das wird jetzt viel gehört«, sagte sie und drückte mir eine LP in die Hand. »Okay«, sagte ich. Ihr war das allerdings zu wenig. »Hör doch erst mal rein!« Und schon hatte ich den Kopfhörer auf. Was daraus drang, klang entfernt nach Kirchweih. Da ich bereits wusste, was Verkäuferinnen von mir erwarteten, hielt ich zwei Stücke durch. »Gut«, sagte ich dann und versuchte entschlossen auszusehen, »die nehm’ ich«. Sie war nicht ganz überzeugt, wurde aber nach hinten gerufen: »Frau Hitler, könn’ Se mal kommen.« Ich verdrückte mich zur Kasse. »Status Quo«, sagte die Kassiererin wohlwollend. »Hört meiner auch.« Nichts wie raus. »Mama«, fragte ich draußen, »die eine Verkäuferin hat zu anderen Frau Hitler gesagt.« »Kann nicht sein«, sagte Mama, »niemand heißt Hitler.«
Zuhause stellte ich Status Quo zu den Märchen-Platten und es gelang mir, sie vollständig zu verdrängen. Rockmusik machte schließlich erwachsen, aber ich war ihr noch einmal entwischt. Zumindest bis zu jenem Skikurs, drei Jahre später.
Ich saß in der dumpfen, freudlosen Wärme eines Mehrbettzimmers. Es roch nach Jungsumkleide und vor dem Fenster lag deprimierend viel Schnee. Alles war ordnungsgemäß sinnlos. So wie es ja auch sein sollte. Bis dann jemand den Kassettenrecorder anschaltete. Der Skikursstumpfsinn platzte auf und etwas Fremdes quoll daraus hervor. Nicht fremd wie in den Problemfilmen im Fernsehen, sondern richtig fremd. Eiszeit, mit mir beginnt die Eiszeit, behauptete die Sängerin, minus 90 Grad. Und das stimmte ja auch, jedenfalls auf jene verworrene Weise, wie eben nur Poptexte stimmen. Die nächste Stunde war meine Initiation in das, was – wie ich durch geschicktes Fragen in Erfahrung brachte – Neue Deutsche Welle hieß.
In dieser Nacht beschloss ich, Fan zu werden. Was das bedeutete, war mir keineswegs klar. Auch nicht, was zu tun war. Nur dass es sein musste. Da ich schlecht jemanden fragen konnte, beschloss ich erstmal abzuwarten. Zu Hause konnte ich ja im Buchclubkatalog nachschauen. Vielleicht brachte mich das irgendwie weiter. Dort gab es Platten, die Die neue Welle ist Das Da und Das Neue Deutsche Tanzcafé 2 hießen. Aber es dauerte noch vier Monate, bis mir Holger beim Fußballtraining erzählte, er hätte einen Stapel Neue-Deutsche-Welle-Sampler von seiner Cousine bekommen. Ich hielt ein paar Tage Sicherheitsabstand ein, bis ich ganz zufällig in seiner Gegend war und klingelte. Er war überrascht, aber er ließ mich rein. In seinem Zimmer blätterte ich ganz nebenbei seine Platten durch. »Kann ich mir die aufnehmen?« »Klar!« »Und die?« »Ja, kannste mitnehmen.« Unglaublich, wie einfach das ging: Ich hatte fünf Platten mit NDW-Gruppen ausgeborgt. Auf unbestimmte Zeit. Schwieriger wurde die Sache mit dem Anhören. Ich wartete eine Woche, bis ich allein war, dann schlich ich ins Wohnzimmer, wo die Stereoanlage stand. Alles klang gleich aufregend und neu. Fast jedenfalls.
Denn eine Gruppe schien das Neue, das mich da ansprang, noch besser hinzukriegen. Sie war auf zwei der fünf Sampler vertreten. Die Stücke hießen Wir bauen eine neue Stadt und Sprung über vier Pferde. Natürlich verstand ich noch nicht, was ich daran nicht verstand. Nur dass diese Musik aus einer anderen Welt kam. Einer Welt, in die ich nicht einfach so gehen konnte, mit der ich aber durch das Mitgrölen von Zeilen wie Die Patronentaschen, die wir alle tragen, sind Patronentaschen in Verbindung treten konnte. Wobei mir egal war, was das eigentlich bedeuten sollte, solange es bedeutete, dass es diese Welt gab.
Und natürlich ahnte ich nicht, dass Palais Schaumburg bereits eine Supergroup jener Musik war, von der ich ja Fan sein wollte. Ich wusste nichts von den Querverbindungen zu anderen Gruppen, die Die Zimmermänner oder Nachdenkliche Wehrpflichtige hießen, auch nichts von den Linien, die von hieraus wie in Parallelmontage in alle Richtungen führten: zu den Flying Lizards, zu Kid Creole & The Coconuts, zu Pere Ubu, dissidentem Jazz und Kurt Schwitters. Dass diese Musik auf Hitplatten für den Tankstellenbedarf gelandet war, weil die deutsche Plattenindustrie Mitte 1981 in heilloser Torschlusspanik wahllos Undergroundgruppen abwarb, die sie dann durch Billigsamplerkopplungen verzweifelt zu vermarkten versuchte, hatte mir noch keiner gesagt. Auch nicht, dass das keine normale Musik war. Das lernte ich erst, als ich endlich den Walkman bekommen hatte und ihn über den Pausenhof trug: Gibst Du mir Mörtel, rühr ich den Kalk, gibst Du mir Mörtel, rühr ich den Kalk. Ich fühlte mich echt funky und wartete auf die wichtigste aller Fragen: »Was hörst’n da?« Als sie endlich jemand stellte, etwas lustlos wie ich fand, aber immerhin, reichte ich ihm den Kopfhörer, wie ich es während der letzten zwei Jahre so oft beobachtet hatte. Leider stieß er keine weißen Wölkchen aus, in denen »Stark!« stand. Oder »Irre!« Er zuckte zusammen und gab ihn mir ganz schnell zurück. Die Verstörung in seinem Gesicht war echt, ebenso die Mischung aus Misstrauen und Mitleid. Und mir wurde klar, dass ich den Schuhgeschäften noch mal von der Schippe gesprungen war. Nur ob das gut war, das wusste ich nicht.
Beatlemania!

1. Auflage 2010, ca. 140 Seiten, mit über 100 Fotos, Dokumenten u. Faksimiles
ISBN: 978-3-7844-3221-2
19,95 EUR D / 20,60 EUR A / 34,50 CHF (UVP)
LangenMüller
Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.
Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.