Jan Faktor: Alles muss in eine tobende Ordnung gebracht werden (Freygang)
Ich kam damals im Frühjahr ’89 relativ früh am Nachmittag in Steinbrücken an, konnte den Lauf der Dinge also in Ruhe beobachten. Die Schlucht füllte sich allmählich, schwer bestiefelte Punks tauchten da und dort langsam auf. Auf den Wiesen standen einige Zelte und Autos. Aber nicht sehr viele. Die meisten reisten natürlich ohne Gepäck – so, wie sie waren, und es wurden gegen Abend immer mehr. Und die meisten schliefen dann, wenn alles vorbei war oder sie nicht mehr stehen konnten, dort, wo sie gerade umgefallen waren. Uwe trank nachmittags etwas mit, auch abends beim Konzert, fühlte sich für alles aber nur bis etwa zehn Uhr zuständig. Bis dahin musste alles abgesprochen und geregelt sein. Anschließend überließ er – es war auch realistisch nicht viel anders möglich – die ein- bis zweitausendköpfige Menge der Selbstorganisation und feierte weiter wie alle anderen. Bis auf Prellungen oder Schnittwunden – manche Leute laufen im Freien eben gerne barfuß – ist normalerweise zum Glück nie etwas Schlimmes passiert, obwohl die ekstatischen Tänze in der Nacht beim Konzert immer sehr wild waren. Den Wolga von André Greiner-Pol erwischte es allerdings ein¬mal ziemlich böse, als er den hinausgezögerten Auftritt von Freygang durch einen motorisierten Überfall erzwang. Alle Freygang-Spieler waren nämlich in Andrés Auto eingestiegen und fuhren bis zur Bühne, weil die Band Noah irgendwie nicht Schluss machen wollte. Es war aber nicht nur sehr schwer, mit dem großen Fahr¬zeug durch die bereits aufgewühlten und zusammengedrängten Massen zu kommen, es war dann noch schwerer, aus dem belagerten Auto überhaupt wieder herauszukommen. Der arme schwarze Wolga wurde hin und her geschaukelt, dann vor Begeisterung sogar angehoben und fallengelassen. Und es war dann bei der Platzknappheit unmöglich, von den wildgewordenen Leuten zu verlangen, nicht auch auf dem langen Dach des russischen Kombis zu tanzen. Freygang kam dann schließlich doch aus den Türen; und weil ihr Auftritt nun dran war, mussten sie das Auto in der Wildnis zurücklassen. Aber der robuste Wolga überlebte das Ganze zum Glück – nur stark verbeult und verdreckt –, ein Techniker schaffte es irgendwann, ihn aus der Menge herauszuschaffen. Diese Szenen spielten sich zwar in irgendeiner anderen Sommernacht ab, sie hätten aber auch gut in die Nacht gepasst, die ich dort erlebte. André sang, als ich damals dabei war, nämlich Folgendes: Alles muss haargenau in eine tobende Ordnung gebracht werden. Aber vielleicht sang André dieses Artaud-Zitat auch in jener Nacht, in der er seinen in den Massen ertränkten und in dem Moment erst einmal halbwegs abgeschriebenen Wolga vor Augen hatte. Auf jeden Fall hätte diese Beschwö¬rung auch Teil des politischen Programms der von ihm (mit Aljoscha Rompe) später in der Nachwendezeit gegründeten Autonomen Aktion Wydoks sein können. Als ich ihn in Steinbrücken auf der Bühne erlebte, sang er diese Zeile wiederholt wie eine Litanei. Alles muss haargenau, alles muss haargenau in eine tobende Ordnung gebracht werden. Und ich, der normalerweise nicht tanzt – also nur dann tanzen kann, wenn alles, aber auch alles um mich herum und in mir stimmt –, tanzte und raste wie besessen. Es war die Hölle unterm Himmel. Die Ecke, in der die Punks versuchten, sich kaputt zu schubsen, mied ich dabei als vorsichtiger Mensch trotz¬dem instinktiv. Enttäuscht war ich in dieser Nacht wieder mal davon, was Die Skeptiker anzubieten hatten – erinnern kann ich mich nur noch daran, dass sie alle ihre kräftigen nackten Arme zur Schau stellten und furchtbar eintönig auf ihre Gitarren einschlugen.
Zum Glück haben sich Uwe und Birgit von ihrem DDR-typischen, ästhetisch längst etwas störenden Sprelacart-Küchenschrank nicht trennen können – dem einzigen zuverlässigen Zeugen der Präsenz einzelner Bands. Auf diesem Schrank kleben nämlich bis heute die vielen Aufkleber der Bands, also derjenigen, die Aufkleber dabei hatten und Uwe schenkten. Viele Gruppen fehlen dort leider. Manche wie Freygang (auch in den Zeiten des Verbots), Feeling B, Die Firma spielten in Steinbrücken jedes Jahr, manche Gruppen nur einmal – aber sehr viele hatten dort ihre ersten öffentlichen Auftritte. Und einige von ihnen sind später sehr bekannt geworden: Rammstein, The Inchtabokatables. Gruppen wie Subway to Sally, Engerling, Die Skeptiker waren, als sie in Steinbrücken auftraten, schon bekannt. Auf alle Fälle kann man über Stein¬brücken behaupten, dass dort ein großer Teil der wichtigsten nicht-kommerziellen, also von der damaligen Unterhaltungsmaschinerie nicht verdorbenen DDR-Bands gespielt hat. Die allererste Gruppe, die dort auftrat, war die Thüringer Bluesband Pasch, mit der eine Zeitlang auch André Greiner-Pol gesungen hatte und die sich später Kirsche & Co. nannte. Etwa zwei Drittel der Bands kamen allerdings aus Berlin, wohin Uwe außerhalb Thüringens die meisten Verbindungen hatte. Und noch eine Sache spricht für die Bedeutung dieses Wagnisses: In Steinbrücken spielten illegal mehrere gute und bekannte Bands aus dem Westen, die als Touristen angereist waren: Zum Beispiel die Punkbands Normahl und V Mann Joe. Kevin Coyne, der seinerzeit der Überlieferung nach bei den Doors Jim Morrison ersetzen sollte, war ebenfalls da.
Diejenigen, die besonders unangenehm aufgefallen waren, bekamen das beim Konzert sofort zu spüren. Am schlimmsten erwischte es eine Punkband aus dem Westen, deren Musiker in einem 500er Mercedes angekommen waren und sich unauffällig in ihre speckigen Auftrittsklamotten hatten umziehen wollen. Einige Freaks krochen dann beim Auftritt der Band unter die Bühne und stießen so lange von unten gegen den Bühnenboden, bis der Schlagzeuger samt Schlagzeug von der Bühne kippte. Der arrogante Sänger von Monokel, der nur mit dem Rücken zum Publikum singen wollte, wurde mit Bier begossen und gab irgendwann auf. Etwas Dreck und Chaos sollten in Steinbrücken nie fehlen. Als in einem Jahr der Regen ausnahmsweise ausblieb, wurde Uwe dazu genötigt, das Gelände zu bewässern. Die Punks brauchten den Schlamm. Es gab sogar Versuche einiger Unwissender, in dem nahegelegenen Gülle-Teich zu baden.
Trotz allem ging dieser Teil der DDR- und Nach-DDR-Rockgeschichte zu Ende. Vor allem wegen der Pkw-Invasion in den 90er Jahren – die ganze Umgebung wurde durch die Fahrzeuge lahmgelegt, alle Zufahrtsstraßen komplett blockiert. Und leider hat auch ein Auto den einzigen, zum Glück nicht tödlichen Unfall der Steinbrückener Geschichte verursacht: Ein besoffener Trottel ist auf einer Wiese über ein Zelt gerast, in dem mittags ein Pärchen lag. Es war wahrscheinlich wirklich Zeit, Schluss zu machen.
Beatlemania!

1. Auflage 2010, ca. 140 Seiten, mit über 100 Fotos, Dokumenten u. Faksimiles
ISBN: 978-3-7844-3221-2
19,95 EUR D / 20,60 EUR A / 34,50 CHF (UVP)
LangenMüller
Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.
Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.