Ulrich Woelk: Auf dem Vulkan (Hansaplast)


Die Erinnerungen lauerten überall. Zum Beispiel beim Schälen eines Apfels für einen Kinderbrei, wobei er sich versehentlich in den Finger schnitt. Die rote Farbe des Blutes, das aus der Schnittwunde hervorsickerte, war schockierend intensiv verglichen mit jenem pastellnen Ton-in-Ton aus Haferlocken, Apfelstücken und seiner Haut. Das Rot aus dem Innern seines Körpers schien der Beweis dafür zu sein, dass unter der Oberfläche der Dinge Kräfte kochten und brodelten, die jederzeit und unkontrollierbar hervorbrechen konnten. Er brauchte ein Pflaster. Er ging ins Bad und öffnete den Apothekenschrank, der – unzugänglich hoch für Kleinkinder – über dem beheizbaren Handtuchhalter hing. Und als er die Schachtel mit dem Pflaster in die Hand nahm und betrachtete, überfiel ihn wieder eine dieser Erinnerungen: Hansaplast.

Es musste zu Beginn der achtziger Jahre gewesen sein. Die Band hatte sich diesen sonderbaren Namen gegeben: Hans-A-Plast, und das Cover ihrer ersten (und einzigen? – das wusste er gar nicht) LP bestand aus einem schwarzweiß Foto, auf dem eine brennende Ratte zu sehen gewesen war. Die Zeit des Punk! In der Musik und im Leben hatte alles anders werden sollen: kürzer, schneller, härter.

Seit fast drei Jahrzehnten hatte er die Hans-A-Plast-LP nicht mehr gehört, doch sie musste noch in seinem Besitz sein, wenn sie nicht auf irgendeiner der düsteren verrauchten Partys damals verloren gegangen war. Nachdem er die Kuppe seines Zeigefingers mit einem Pflaster umschlossen und so die blutende Wunde abgedichtet hatte, ging er in den Keller. Dort lagerten seine Schallplatten in drei großen Umzugskisten, er hatte sich bis heute nicht nicht von ihnen trennen können, hatte die schwere Musikmasse von Wohnung zu Wohnung geschleppt, weil es ihm wie Verrat vorgekommen wäre, sich von diesem antiquarischen Zeugnis seiner Jugend zu trennen.

Er fand die Kisten und zerrte sie unter einem Regal mit Gartenmöbelpolstern, dem Acht-Personen-Raclettegrill und dem Schnellspannfuß für den Weihnachtsbaum hervor und öffnete sie. Er betrachtete die wirre Farbfolge der schmalen, dicht an dicht stehenden Alben und einen Moment lang deprimierte es ihn, dass seine Jugend zu etwas geworden war, dass ihn an den Spaziergang über einen Flohmarkt denken ließ. Er zog einzelne Platten aus dem Stapel und fand schließlich, wonach er suchte: das schwarzweiß Cover des Hans-A-Plast-Albums, erschienen 1979 bei Lava-Records.

Er betrachtete einen Moment lang die brennende Ratte und drehte das Cover dann um. Auf der Rückseite las er die Titel der Songs: Lederhosentyp, Rock'n Roll Freitag, Ich bin hungrig, Monopoly ... Dass er sich an diese Schallplatte noch erinnern konnte, kam ihm auf einmal wie eine bedeutsame Botschaft seines Unterbewusstseins vor, und wie immer, wenn ihn etwas emotional berührte, wollte er mit jemandem darüber sprechen, um für die Empfindung, die er für Sensibilität hielt, ein wenig bewundert zu werden.

Er ging ins Wohnzimmer. Hinter der großen Fensterfront zum Garten stand Renate mit Handschuhen und dem Pflanzautomaten für Blumenzwiebeln auf der Terrasse. Er trat zu ihr und hielt ihr die Hans-A-Plast-LP hin, mit einem Blick, als müsse sie sofort wissen, welche Gefühle ihn bewegten. Aber da sie gerade über die ideale Lage für ein Krokusbeet nachgedacht hatte, sah sie ihn verständnislos an.

„Was ist das?“, sagte sie.
„Eine Schallplatte.“
„Das sehe ich, Cornelius.“
„Erinnerst du dich denn nicht an Hans-A-Plast?“
Renate betrachtete den Schriftzug auf dem Cover und schüttelte den Kopf. „Nein, nie gehört.“
„Du kennst diese Platte nicht?“
„Nein, sollte ich?“

Er wusste ja, dass ihr Leben ein anderes gewesen war als seines, bevor sie sich kennengelernt hatten. Aber in Momenten wie diesem beunruhigte ihn der Gedanke, dass sich daran mit ihrer Hochzeit überhaupt nichts geändert haben könnte. Die subversive Symbolik des Covers mit der panischen Ratte stieß sie ganz offensichtlich ab. Das Untergründige und Rebellische daran – er sah es ganz deutlich in ihren Augen –, entging ihr vollkommen, beziehungsweise es interessierte sie überhaupt nicht.
Mit skeptischem Blick drehte sie das Cover um und las auf der Rückseite die Titel der einzelnen Songs. Cornelius ahnte bereits, dass ihr auch die aggressive Ironie, die in den Überschriften steckte, entgehen würde.

Sie las laut: „Hau ab, du stinkst ... Das hast du gehört?“
„Hans-A-Plast hatte eine Sängerin“, sagte er erklärend.
„Oh ja, ich seh schon ... Lederhosentyp ...“

Renate sagte es in ihrer Art von Ironie: eine oberflächliche melodiöse Einfärbung ihrer Worte, die darüber hinwegtäuschen sollte, dass sie einen Zusammenhang nicht verstand. Sie übersah immer wieder, und das ärgerte ihn ganz besonders, wie groß seine Offenheit der weiblichen Perspektive gegenüber von jeher gewesen war. Einer der Songs hieß zum Beispiel: Für 'ne Frau, aber Cornelius wollte Renate nicht eigens darauf aufmerksam machen. Er sah wirklich nicht ein, dass er sich jetzt verteidigen sollte.
„Es war eine wichtige Zeit“, belehrte er sie ganz allgemein. „Damals haben wir unsere Freiheit erkämpft.“
„Was für eine Freiheit denn?“, sagte sie und betrachtete lächelnd den Garten, als sei das einzige Ergebnis des Kampfes, auf den er sich so pathetisch berief, die Freiheit zu entscheiden, an welcher Stelle des Gartens man eine Handvoll Blumenzwiebeln in die Erde legen sollte. Und hatte sie damit nicht möglicherweise sogar recht? War sie etwa weiser als er?
Renate gab ihm, immer noch lächelnd, die Platte zurück. Dabei fiel ihr Blick auf seinen Finger. Das Blut aus der Schnittwunde war durch das Gewebe des Pflasters gedrungen. „Was ist passiert?“
„Ich habe mich geschnitten.“
„Ich mache dir ein größeres Pflaster drauf. Das ist zu klein.“
„Lass nur“, sagte er, weil er nicht wollte, dass sie ihm half. „Ich mache das schon.“
„Wie du willst. Was meinst du, sollte ich die Krokusse neben den Taxus setzen oder zur Auflockerung unter den Essigbaum?“
„Weiß nicht“, sagte er und ging wieder ins Bad, um das Pflaster zu wechseln. Er hielt noch das Hans-A-Plast-Album in der Hand und legte es auf den Badewannenrand. Es brennt – nannte sich eins der Stücke, das anarchistischste, in dem es um brennende Büroräume und Einkaufszentren ging. Und am Ende hieß es immer wieder in einem harten, schnellen, hungrigen Rhythmus: „Tanz auf dem Vulkan, Tanz auf dem Vulkan, Tanz auf dem Vulkan, so nennen wir das!“

Cornelius löste das Pflaster von seinem Finger und betrachtete die Wunde, aus der es immer noch rot heraussickerte, als wäre der Vulkan, der er einmal hatte sein wollen, zur Kuppe seines Zeigefingers geworden.

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LangenMüller

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Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.