Matthias Schamp: Ausziehen kann sich jeder... (Die Kassierer)


Es kommt nicht jeden Tag vor, dass direkt neben einem ein Raumschiff in ein Rosenbeet knallt.
„Wow – die sind hin“, dachte ich mit Blick auf die Rosen.
Vier Außerirdische entstiegen den Trümmern und klopften sich den Staub aus den Raumanzügen.
„Nimm mich mit auf dein Schiffchen, kleines Haus“, sagte der erste.
„Das Leben ist ein Handschuh!“, sagte der zweite.
„Der gar nicht existiert“, ergänzte der dritte.
„Heh – alles okay mit euch?“, erkundigte ich mich.
„Kuckuck!“, machte der vierte.
Nachdem wir ein paar mal auf unsere Translatoren gehauen hatten, klappte die Verständigung immer besser.
„Prolls und Außerirdische vereinigt euch!“, schallte es mir entgegen.
„Also ich bin der Schamp“, sagte ich und streckte vorsichtig die Hand aus. Nacheinander schlugen ihre Tentakeln ein: Wölfi, Nikolaj Sonnenscheiße, Volker Kampfgarten. „Wir sind lustige Musikanten, die aufspielen in Fick-Dur und Arsch-Moll.“ Der vierte wurde mir als Mitch Maestro vorgestellt. Er war Methangas-Atmer. Weil bei der Bruchlandung sein Atemgerät beschädigt worden war, konnte er nicht sprechen. Er machte nur immerfort „Kuckuck!“ und zuckte.
„Wir sollten abhauen. Ihr habt gerade Bochums einziges Rosenbeet zerstört“, erklärte ich: „Am besten schlagen wir uns zu einer Nacht-und-Not-Tanke durch. Dort gibt es praktisch alles. Ihr braucht Körperkleider und ein neues Atemgerät.“
Damit die Trümmer des Raumschiffs keinen vollkommen fremdartigen Geheimdiensten in die Hände fielen, schmiedeten sie sie zu Musikinstrumenten um, welche sie sich auf den Rücken schnallten. Dann machten wir uns auf den Weg.

In der Ferne ragten die rostigen Stahlskelette längst aufgegebener Industrieanlagen in den Himmel. Unter unseren Füßen knirschte Schotter. Wir erkletterten Schlackeberge, umrundeten Öllachen und überquerten ausgedehnte asphaltierte Areale, in denen seltene Bazillenarten brüten. Wir passierten Hochöfen, Köhlerhaufen und Container-Friedhöfe. Aus den aufgeblähten Bäuchen der Gasometer drang das Geheul der darin hausenden Geister. Über unseren Köpfen verzweigten sich bizarr geformte Fördertürme, die Ausgeburten einer kranken Fantasie.
Aus den schießschartenartigen Fensteröffnungen bunkerähnlicher Behausungen folgten uns die misstrauischen Blicke der Bewohner.
Nach einer Weile mussten wir innehalten, weil Mitch Maestro nicht mehr konnte. Er war blau angelaufen und zuckte immer heftiger. Sonnenscheiße beugte sich flüsternd über ihn. Es klang wie: „Der deutsche Wald soll brennen!“ Und: „John Wayne lebt.“ Danach beruhigte sich der Methangas-Atmer ein wenig, war aber immer noch nicht in der Lage, den Weg aus eigener Kraft fortzusetzen. Deshalb beschlossen Sonnenscheiße und Kampfgarten, ihn zu tragen. Ich half derweil beim Schleppen der Instrumente.
Währenddessen rann der Schweiß in Strömen an uns herunter. Wegen der unzähligen unterirdisch schwelenden Kohlefeuer ist es im Ruhrgebiet immer sehr heiß. Und dann senkte sich auch noch plötzlich die Nacht herab. Das geht in der Region extrem rasch, weil sich die in der Luft wirbelnden Rußpartikel mit der gewöhnlichen Finsternis überlappen. Bald konnte ich mich nur noch anhand der fluoreszierenden Flecken in der Landschaft orientieren, die von den Chemieabfällen hervorgerufen werden. Und zum Glück strömt auch an etlichen Stellen Erdgas aus dem Boden, so dass tanzende blaue Flämmchen den Weg bescheinen. Sonst wären wir gewiss in eine der zahllosen Gruben gestürzt, die von den Tagebrüchen herrühren.

Es ist immer ein erhebender Moment, wenn irgendwo in der brutalen, lebensfeindlichen Wirklichkeit des Ruhrgebiets die Benzinreklame einer Nacht-und-Not-Tanke aufscheint. Selbst in der Seele des hartgesottensten Prolls gerät dabei eine Saite in Schwingung. Wir hielten bei diesem Anblick ergriffen inne und gaben uns allerlei poetischen Empfindungen hin.

Mit frischem Schwung nahmen wir sodann das letzte Wegstück in Angriff.

Endlich glitten die Glastüren der Eingangsschleuse zur Seite und das Innere umfing uns mit angenehmer Kühle. In riesigen Hallen lagerten endlose Flaschenbatterien. Die darin schwappende Flüssigkeit stellt praktisch vom Säuglingsalter an die einzige Nahrungquelle für die Bewohner dieser Region dar. Sie dient als Frühstück, Mittag- und Abendessen. Hier kamen die vier zum ersten Mal mit dem kostbaren Nass in Kontakt, dem sie in der Folge zahlreiche Lieder widmen sollten: „Anarchie und Alkohol, trinke viel und fühl mich wohl“, „Das Bier fließt dort die ganze Nacht, bei Anne in Hamme“, „Besoffen sein, besoffen sein, einfach nur besoffen sein, besoffen wie ein Warzenschwein“. Oder die schöne Bearbeitung einer Vorlage von Heinz Böninghausen: „Wenn das Wasser der Ruhr blondes Pils wär, ja dann möchte ich so gern ein Entlein sein.“

Doch zunächst musste ein Atemgerät für Mitch Maestro her. Und die vier brauchten dringend Körperkleider, die sie als Angehörige der menschlichen Spezies auswiesen, um nicht Gefahr zu laufen, von einer Patrouille aufgegriffen und in einen Weltraumzoo gesteckt zu werden. Nach menschlichem Ermessen waren die Leiber, die sie sich aussuchten, keine so gute Wahl. Aber Außerirdische haben natürlich andere Qualitätskriterien.
Wölfis Körperkleid war Bert aus der Sesamstraße nachempfunden. Er muss das irgendwann selbst bemerkt haben, denn ein paar Monate später sah ich ihn bei einem Konzert im Oki Doki mit einer Bert-Puppe in der Hand „Wenn der Vater mit dem Sohne“ intonieren. Es war das Konzert, auf dem zum ersten Mal Algen geschmissen wurden. Und noch aus einem anderen Grund war der Auftritt legendär: Bert rutschte nämlich während des Duetts die Hose runter. Damit war die Auszieh-Nummer gewissermaßen präfiguriert.
Viele Jahre später sagte mal eine Freundin zu mir: „Du weißt doch, dass sich Wölfi auf der Bühne auszieht?“ – „Klar“, sagte ich: „Das weiß doch jeder.“ – „Und du weißt vermutlich auch, dass sich seit geraumer Zeit auch die übrigen Bandmitglieder ausziehen?“ – „Klar“, brummte ich: „Hab ich kürzlich noch selbst in der Zeche gesehn.“ – „Aber was du vielleicht nicht weißt, ist“, sagte die Dame mit triumphierendem Augenblitzen, „dass sich neuerdings auch das Publikum auszieht.“ Donnerwetter! Wenig später sah ich als Beweis dann das Video der legendären Ostkonzerte. Und kurz drauf schwappte die Welle auch in den Westen.

Allerdings muss man aufgrund des hier Offenbarten in Abrede stellen, dass die vier auf der Bühne tatsächlich nackt sind. In Wahrheit sind es ja lediglich Körperkleider, die sie zeigen. Ihr tatsächliches Äußeres bleibt darunter verborgen. Hinweise darauf finden sich in einigen Liedern, z. B. „Außerirdischer, wo befindet sich dein After?“ und „Bin ich ein Körper oder habe ich einen Körper?“.

Natürlich sind die Fans in dem Bestreben, ihren Idolen nachzueifern, zu einer solchen Differenzierung nicht fähig. Ich erinnere mich an ein Ereignis im Intershop. Kampfgarten und ich hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, unser Abendessen in Form diverser Biere gemeinsam einzunehmen. Immer wieder kam ein Typ an unseren Tisch, um Kampfgarten sein Glied zu zeigen. Obwohl dieser abwehrte, nein, nein, er wolle es nicht sehen, und schließlich sogar vorschlug, der Typ solle sein Glied doch lieber der Kellnerin zeigen – diese habe ihm, Kampfgarten, eben noch gesagt, dass sie ganz wild darauf sei, es zu sehen –, ließ sich der Typ nicht umstimmen. Mitten in der Kneipe packte er sein Glied aus.

„Weißt du, was das Schlimmste ist?“, fragte mich Kampfgarten später, während er trübsinnig in sein Glas starrte. „Wenn das Bier alle ist?“ äußerte ich eine Vermutung. „Das wäre schlimm“, stimmte Kampfgarten zu. „Aber das Schlimmste, das wirklich Allerschlimmste sind unsere Fans.“
Von Kampfgarten stammt auch die Weisheit: „Ausziehen kann sich jeder, aber sich so ausziehen, dass es auch lustig ist – das ist die Kunst!“

Doch all dies lag in jener Nacht in der Nacht-und-Not-Tanke noch in einer fernen Zukunft. Herrje, die vier waren eben erst aus dem All angelangt, wo sie die Katze, die die Herrscherin aller Universen ist, getroffen hatten. Mit ihrem Raumschiff, dem Jenseitszeppelin, waren sie auf die Erde gestürzt. Noch war Wölfi nicht Beinahe-Bundeskanzler. Kampfgarten dachte nicht mal daran, sich die Ohren blau tätowieren zu lassen. Mitch hatte seine geheimen Psi-Kräfte kaum entfaltet und Sonnenscheiße noch nicht in einer Wanne voll Ravioli gebadet. Die vier schickten sich gerade erst an, die Zivilgesellschaft zu untergraben. Noch gab es keinerlei Grund, sie als musikgewordenes Tourette-Syndrom zu bezeichnen …
Stattdessen näherten wir uns soeben der Kasse. Weil in Bochum sowieso niemand Geld hat, ist das Bezahlen eine rein fiktive Angelegenheit. Gekauft wird auf Pump.
„Ein Atemgerät, vier Körperkleider und jede Menge Bier, das in unseren Bäuchen schwabbelt“, sagten wir und rülpsten.
„Alles klar“, sagte die Kassiererin und haute wie wild in die Tasten.

Die Kasse war ein hybrides Ungetüm, ein Crossover aus alten mechanischen Komponenten und allerneuster Hightech. Sie knatterte und rumorte. Aus Düsen und Ventilen schoss heißer Dampf. Kolben hoben und senkten sich, Räder drehten sich wie irr, Leuchtdioden brannten ein wahres Feuerwerk ab.
„Darf ich auch mal?“, fragte Wölfi, der großes Interesse an technischen Details hegte.

„Finger weg!“, sagte die Kassiererin, ein junges schnippisches Ding. Man merkte ihr an, dass sie stolz darauf war, den einzigen Arbeitsplatz weit und breit ergattert zu haben.
Die Kasse schickte sich unterdessen an, die Rechenoperation zu einem Ende zu bringen. Das Geflacker der Leuchtdioden tauchte den gesamten Raum in pulsierende Rottöne. Das Geknatter schwoll zu einem Getöse. Der Boden zitterte und die Wände wackelten. Qualmwolken drangen aus dem Gerät. Dann ertönten Fanfarenklänge. Aus einem Rohr schoss eine mit dem Ergebnis bedruckte Girlande, die sich in der Luft entfaltete.

Obzwar sie einer Spezies angehören, die der unseren technisch weit überlegen ist, folgten die vier diesem Vorgang mit offenen Mündern. Und das war, ich schwör’s, der Moment, in dem sie beschlossen, sich fortan DIE KASSIERER zu nennen.

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LangenMüller

Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.

Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.