Hans Pleschinski:Swinging Wacholder (Middle of the Road)


Nein, dass mein heimatlicher Nährboden, die Lüneburger Heide, um 1970 in irgendeiner Weise mit der Londoner Carnaby Street konkurrieren konnte, lässt sich nicht behaupten. Statt tonangebender Rock- und Popgruppen spiel¬te bei uns auf Schützenfesten die Combo Haidschwager. Während sich an der Themse die Jugend der Welt tummelte, grünte bei uns eindrucksvoll der Wacholder.

Dennoch verging in meinem ländlichen Umfeld kein Tag klanglos. Erste musikalische Signale stammten vielleicht von meinem Großvater, der jahrzehntelang hauptsächlich am Küchenfenster saß und Zigarre rauchte. Als ehemaliger Pionier der kaiserlichen Truppen von 1914 klopfte er dann und wann einen Marschrhythmus auf den Tisch und hub, mit oder ohne Gebiss, zu singen an: In Halle, in Halle, da sind die Mädchen alle! Meine Großmutter ertrug diesen Refrain seit sechzig Jahren. - Eine besondere Vermischung von deutschbodenständigen Klängen mit dem Sound der Welt zu einem musikalischen Spektrum, von dem ich heute noch zehre, war in meiner Heimat frühzeitig vorgegeben. Da wir in der Nähe der Zonengrenze das DDR-Fernsehen oft klarer empfingen als die ferneren ARD-Anstalten, wurde ich schon als Zwölfjähriger von den offensiven Kampfgesängen der Freien Deu¬tschen Jugend, den Blauhemden aus Halberstadt, zugeschwappt. Gewiss noch unbewusst erschauerte ich dennoch zutiefst vor dem Wortgedröhn der sozialistischen Chöre, die vor einer Traktorenfabrik schmetterten:

Im Betrieb - Komsomol!
Auf dem Land - Komsomol!
Überall - Komsomol!
Wie die Komsomolzen haun wir auf den Bolzen
Feste, feste, feste alle Mann.

Angesichts solcher klanglichen Botschaften aus dem bedrohlichen Osten vermittelte mir das Westfernsehen von vornherein eine zuckersüße, fast chiffonleichte Mondänität, die uns glauben ließ, wir lebten gar nicht übermäßig weit von Las Vegas. Scheinbar ohne hemmende Knochen wand sich Caterina Valente in ihrer Show „Bonjour, Katrin“ tanzend und singend um die Studiolaternen und verhieß: Ein Lied aus Paris, das heißt Moulin Rouge... Ihr Schweizer Showkollege Vico Torriani, ein bisschen fett, aber stets gut bei Stimme, intonierte in seiner Sendung „Hotel Victoria“ auch regelmäßig Kochrezepte: Dieses Ei schlag' ich entzwei. Bei uns zuhause allerdings - noch immer ein bisschen im Nach¬kriegsdeutschland beheimatet - fehlten für das empfohlene Nachkochen die nebulösen Zutaten wie Curry, Balsamico oder Parmesan. Außerdem machte man für eine Mahlzeit nicht so viele Töpfe schmutzig, wie es der Tessiner Schlagergourmet vorführte.

Die blonde Schwedin Bibi Johns - hießen viele Stars in Wirklichkeit womöglich anders? - schätzte ich sehr. Bibi Johns hatte tolle Beine und tanzte in weit schwingenden Petticoats und auf Pfennigabsätzen. Womöglich enttäuschende Texte verstand man bei der Nordländerin nicht, denn sie sang vieles auf Englisch. Vielleicht ver¬schwand sie deswegen, unverstanden, bald von der Mattscheibe. Ich selbst hielt es allerdings schon damals für riskant, dass eine hübsche Frau, die gewiss auch älter würde, dauerhaft kindlich als „Bibi“ auftrat.

Gesang und Tanz gehörten in der Lüneburger Heide durchgehend zusammen. Da ich nicht vieles von dem kannte, was die Menschheit sowohl in Dur als auch in Moll komponiert hatte, hörte ich sonntags beim Mittagessen mit der Familie unbefangen und gerne zünftige Klänge vom Deutschlandfunk, den Radetzkymarsch und böhmische Blasweisen. Rasch nach dem Kompott rannte ich zu Kirsten in die Nachbarschaft hinüber. Die Schulkameradin lebte allein mit ihrer Mutter. Kirsten hatte viel Rhythmus im Blut und zu den letzten Volksmusikklängen wirbelten wir die „Tritschtratsch-Polka“ oder den Walzer „Ein Morgen, ein Mittag, ein Abend in Wien“ durch die kleine Stube. Als Zugabe brachte mir Kirsten, während ihre Mutter noch Pudding dekorierte, überdies den Schmetterlingskuss bei. Gummitwist hatten wir Nachbarskinder bereits früher auf dem Hof der Volksschule gemeinsam erlernt, wobei man beim Springen über die gespannten Stretchbänder, je nach den Beteiligten, zu singen hatte:

Auf dem Celler Bahndamm, erste Galerie,
Da saß die kleine Gudrun, einsam wie noch nie,
Sie wartet auf den Abschiedskuss,
den sie von Hinrich haben muss...

Keiner aus unserer vitalen 1956er Generation beließ es bei Gummihüpfen oder Blasmusik stehen. Ich wagte, wahrscheinlich angeregt vom Plattenregal im „Elektrogeschäft Bublitz“, gleich neben dem Friedhof, einen Ausflug in die klassische Sphäre. Ich schenkte meiner Schwester zu ihrem sechzehnten Geburtstag eine Langspielplatte mit Mozarts „Die Entfüh¬rung aus dem Serail“. Das erste, was wir gemeinsam hörten, war die Arie des Osmin: Erst geköpft, dann gehangen, dann gespießt auf heiße Stangen... Meine Schwester benötigte länger, um später wieder an die Klänge der klassischen Großmeister herangeführt zu werden. Ihre beiden Alben von Esther und Abi Ofarim hütete sie hingegen stets wie Augäpfel. Das elegante Duo aus Israel verbreitete eine Stimmung von Olivenhain und Sehnsucht nach Strand.

Schallplatten gefielen mir von vornherein, nicht zuletzt wegen der farblich unterschiedlichen kreisrunden Titel- und Firmenaufdrucke: Capitol, Telefunken, Eterna aus der DDR, Decca... Es arbeitete also eine ganze einfallsreiche und geschmackvolle Industrie den Musikfreunden entgegen! Ich selbst besaß jedoch nur wenige Schei¬ben, da ich frühzeitig ein Tonbandgerät geschenkt bekam und mit Schulka¬meraden in meinem Kleiderschrank Astronautenhörspiele mit Mikro herstellte, vornehmlich ein mehrstimmiges Gekreisch unter Meteoriteneinschlag. 1967 jedoch musste ich unbedingt eine brandneue Single besitzen, denn vor allem der tonal raffiniert eingesetzte Zwischentext Na, Na, Na/Na, Na, Na, Na verursachte mir das angenehmste Kribbeln. Ich weiß nicht, wie oft ich dann „Samson and Delilah“ von Middle of the Road hörte.

Insgesamt zerfiel mein jugendliches Musikleben zwischen Mooren, rötlichen Backsteindörfern und Wachholder in drei Sparten. Im gymnasialen Musikunterricht spielten vom Leben erschöpfte Lehrer jahrelang Platten mit dem „Freischütz“ und „Rigoletto“ vor und verführten damit selten zu einem musisch akzentuierten Leben. Manchmal sangen die Regensburger Domspatzen in der Turnhalle, und auch ich wollte auch einer der reinen Sängerknaben zwischen reinen Kameraden werden. Die schier entgegen gesetzte musikalische Unterhaltung am Wochenende, als die pubertären Reinheitsgedanken schon eine Weile passé waren, spielte sich auf den Tanzböden der Dorfgasthäuser ab. Bei diesen feuchten Veranstaltungen, kurz „Dorf-bumms“ genannt, schwoften wir Teenager bis ins Morgengrauen. Die Bands aus Gifhorn und Sülze spielten „Mendocino“ von Michael Holm oder Terry Jacks „Seasons in the Sun“. Wer im elterlichen Garten Cannabis gesät hatte oder einen günstigen LSD-Dealer im Nachbarkaff kannte, teilte Ernte und Besorgung umstandslos mit den Altersgenossen. Unser Chill-out mit Bier, Kirschwein und Mettwurst fand dann meistens in der Küche eines Großbauernhofs oder bei Sonnaufgang im Wald, im Wunderbütteler Busch, statt.

Die dritte Musikwelt erlebte ich bei meinem Freund Wilhelm. Schön, intelligent, frech war Wilhelm und von seinen Eltern nicht wenig verwöhnt. 1974 verbrachte er einen reichlich fragwürdigen Sprachaufenthalt ausgerechnet in: New York City. Der smarte Heidejüngling kehrte als ein zweiter, sogar noch jüngerer David Bowie ins Städtchen am Bach Isebeck zurück. Seinen Plattenschatz aus Manhattan öffnete für uns das Tor in die endgültige Moderne, wie wir meinten, in die Freiheit und Selbstfindung. Bekifft summten wir mit Leonard Cohen All men will be sailors then... Und vor allem Lou Reeds phantastisches „Walk on the wild side“ meinte definitiv die Erlaubnis zu jedweder Lust. Wilhelms Bude dampfte, Beate versuchte noch, in einer Couchecke Erich Fried zu lesen, amerikanische Klänge wummerten durchs Fensterglas über die Kleinstadtdächer im frühen Tagesschein. Und wenn unsere jungen, freundlichen Gemüter alle Botschaften aus der fremden, aufgewühlten Welt nicht weiter verdauen konnten, setzte sich Wilhelm ans Klavier, und wer noch bei Stimme war, sang seltsam Vertrautes von Zarah Leander mit: Davon geht die Welt nicht unter, sie wird ja noch gebraucht...

- In der Heide mag es nun ruhiger geworden sein, die MP3-Player geben nicht mehr preis, was in oft verstummte Köpfe eindringt.

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LangenMüller

Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.

Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.