Roland Spiegel: Der Schmutz, aus dem die Träume sind (The Pogues)


Am Horizont das Heizkraftwerk. Fabrikschornsteine. Staub hing in der Luft und legte sich klebrig auf die Haut. Eine Stimme hielt mich aufrecht an diesem regennassen Tag. Die Stimme von Shane MacGowan. Sie war genau wie das Wetter. Rau, schmutzig, ungeschönt. Und sie war genau so wacklig wie meine Knie nach zu viel Arbeit und zu viel Bier. Sie schlängelte sich an den richtigen Tönen vorbei wie ich an den hektischen Passanten auf glitschigem Pflaster im Feierabendgetümmel. Und sie sang den richtigen Refrain: „Dirty old town, dirty old town“.

Diese Stimme war in meinem Kopf, seit Wochen. Und sie war der Soundtrack zu meinem Leben. Das heißt: Fast. „I kiss my girl by the factory wall“: Schön wär’s. Diese Zeile hätte ich gern in die Tat umgesetzt. Doch kein Girl und kein Kuss in Sicht. Vielleicht machte ich auch nichts her in Billigjeans aus dem Supermarkt und einer abgewetzten Cordjacke, die so aussah, als hätte ich sie von meinem Opa geerbt. Und dann mein Job: Telefondienst in einem Versandhaus. Tagaus, tagein nölende Kunden, die sich über säumige Bestellungen beschweren. Danach der Heimweg durchs Industriegebiet.

Ich ging zu Emmi. Emmi war eine Kneipenwirtin mit schlechtem Geschmack und guten Getränkepreisen. „Emmi’s scharfes Eck“ stand auf einem schmutzigen, beleuchteten Schild in imitierter Handschrift über ihrer Tür – und natürlich mit Idioten-Apostroph. So viel Rechtschreibung beherrschte ich immerhin, um das zu erkennen. Emmi war feist und ordinär, stand in einer geblümten Schürze und stets mit freien Oberarmen hinterm Tresen, aber hatte ein großes Herz. Viele Stunden war ich schon ihrem „scharfen Eck“ gesessen und hatte über all das geredet, was mich so ankotzte: Nato-Doppelbeschluss, Wackersdorf und nun auch die „geistig-moralische Wende“ in unserer Republik. Und die Frauen, die keine Rolle in meinem Leben spielen wollten.

„I kiss my girl by the factory wall“. Es müsste ja gar keine Fabrikmauer sein, eine verschmierte Kachelwand am Bahnhof tät’s schon auch. Whistles, Dudelsäcke und eine Fiddle jubilierten in meinem Kopf, und MacGowan quetschte dazu die magisch einfach wiederholten drei Refrain-Wörter heraus, bei denen die Musik so unspektakulär und logisch von Dur nach Moll kippt: „Dirty old town, dirty old town“. Doch Moll klang bei MacGowan und den Pogues nie nach Weichspüler. Sondern nach Absturz, Verzweiflung und Trotz. Genau, wie ich es brauchte. The Pogues und „Dirty Old Town“: Der Schmutz, aus dem die Träume sind.
Es roch nach Bier-Atem und altem Fett. Zwei Männer Mitte fünfzig mit grauen Bartstoppeln und verklebten Haaren hingen am Tresen und rauchten. Ein Spielautomat blinkte an der kurzen hinteren Wand. Ich bestellte ein Bier und schaute durch den vergilbten Vorhang in der stahlumrahmten Glastür nach draußen. Und da passierte es: Jemand glitt aus und stürzte.

Ich ging raus und sah in verstörte Augen. Sie flackerten zwischen den dicken schwarzen Rändern, die um sie herum gemalt waren. Darüber: wirres schwarzes Haar in einem furchtbar bleichen Gesicht. Durchlöcherte Kleider, Netzstrumpfhose, schwarze Springerstiefel. Sie hatte sich die Knie aufgeschlagen und kam alleine nicht mehr hoch. Sie roch nach Bier und Zigaretten und hatte Narben im Gesicht – von Sicherheitsnadeln. Ich half ihr hoch und nahm sie mit zu Emmi. Widerwillig schleppte sie sich mit hinein, stieß mich mit den Ellbogen, weil sie schon alleine gehen könne. Nein, sie habe keinen Hunger. Bier? Zwei. Für sie. Sie stürzte sie hinunter, raunzte mit herber, brüchiger Stimme „Noch eins!“ und sagte: „Für’n Fuffi kannst mit mir ins Bett.“

Ich sagte: Nein danke, bestellte ihr noch ein Bier und wollte schon gehen. Da deutete sie auf meine Hemdtasche, die etwas ausgebeult war. Ich zog sie raus: nicht Zigaretten, sondern die abgewetzte Musikkassette, die ich dauernd mit mir herumtrug. Und die sofort wieder ein Lied in meinem Kopf zum Laufen brachte. „I dreamed a dream by the old canal“, war die Zeile, die mir jetzt in den Sinn schoss, nur wenige Straßen von jener Stadtautobahn entfernt, die genau im Bett des alten Kanals gebaut worden war. Als mein gestürztes Punk-Girl den mit Filzstift darauf gekritzelten Namen „The Pogues“ las, hellten sich ihre Augen auf. Einer von Emmis Stammkunden kam herein, graugesichtig, mit blutunterlaufenem Blick und Schweißrändern auf dem knallgelben Hemd. Draußen fuhr quietschend die Linie 4 vorbei.

„Emmi“, sagte ich, „magst Du mal Musik einlegen? Also: meine Musik.“ Emmi lehnte ab, damit hatte ich schon mal einige ihrer Dauer-Säufer vergrault. Nicht diesen röhrenden Hirsch mit dem Dudelsack, fügte sie noch an. „Aber, ich hab da was für Euch“. Sie holte eine eigene Kassette aus einer Schublade, zwinkerte uns zu den Worten „mein Lieblingssänger!“ innig zu – und legte Roger ein. Roger Whittaker, den Safari-Mann, Kunstpfeifer und Schmuse-Bariton für schöne Stunden im letzten Lebensdrittel. Er sang los: „I met my love …“, und mir wurde übel. Mein Punk-Girl grub sich die Fingerkuppen mit den abgebissenen Nägeln in die eingefallenen Wangen. Sie sah mich alarmiert an. Ich legte Emmi einen Zehner hin und zog meine panisch blickende neue Freundin hinter mir hinaus auf die Straße. Nieselregen. Abgas-Mief. Dämmerlicht. Eine gebückte alte Frau, die uns kopfschüttelnd musterte, wie wir taumelnd aus dem „scharfen Eck“ traten.

„Willst du jetzt meine Kassette hören? Bei mir?“, fragte ich. Sie sah mich an, entspannte ihr Gesicht und legte mir die Arme um die Schultern. Das Heizkraftwerk am Horizont lag in düsteren Schwaden. Auf der anderen Straßenseite spiegelte sich eine rote Backsteinmauer in einer Pfütze. Wir lehnten uns an die Wand von Emmis Kneipe, direkt neben der Getränkekarte, auf deren Rahmen schmierig-schwarzer Staub klebte. Ich hörte Musik im Ohr. Meine Musik. Die rostige Un-Stimme von Shane MacGowan. Und mein Herz klopfte laut den Rhythmus dazu, bevor wieder der Refrain kam: „Dirty old town, dirty old town.“

Beatlemania!
50 Jahre Beatles! Wir feiern mit einem sensationellen Bildband von Fans für Fans, mit Insider-Stories, fantastischen Fan-Fotos, Dokumenten und Faksimiles.

1. Auflage 2010, ca. 140 Seiten, mit über 100 Fotos, Dokumenten u. Faksimiles
ISBN: 978-3-7844-3221-2
19,95 EUR D / 20,60 EUR A / 34,50 CHF (UVP)
LangenMüller

Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.

Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.