Andrea Heuser: The happy days when we were going nowhere (Gentle Giant)


Fast jede Liebe birgt ein Geständnis. Als ich Gentle Giant zum ersten Mal hörte, war es eigentlich schon zu spät. Ich war nicht etwa sechszehn, trug eine Lederjacke und rauchte auf dem Schul-Klo. Keine Poster, keine Partyschnappschüsse oder Südseeinseln hingen an meinen Wänden, keine nächtlichen Fummeleien in Hauseingängen, kein Wodka auf Ex, kein Liebesgeflüster am Telefon. Mit sechszehn schwärmte ich für meinen Deutschlehrer, verschlang Fantasieromane und meine wildromantischen und darin durchaus verzweifelten Tagträume füllten zwar die Seiten eines Tagebuches, das alleine ich in der Familie für geheim hielt, aber die darin destillierten Sehnsüchte blieben allgemein, groß und überströmend, sie hatten keinen Namen. Zwar gab ich wie alle anderen aus meiner MÄDCHENschulklasse mein Taschengeld für Lippenstifte, T-Shirts und Platten aus – die Musik, mit der ich, ungefragt in der ‚Generation Golf‘ der 80er gelandet, lebte und leben wollte, bestand damals noch aus vorwiegend männlichen Stimmen: David Bowie, Bob Marley, The Cure, Madness und, eine Weile, Genesis – aber die einzige Platte, die ich je geschenkt bekam, hatte ich auf Telefonrechnungskosten meiner Mutter und, schlimmer, meines Stiefvaters, dem SWF3 abgetrotzt, wo ich Samstags abends beim Plattengewinnspiel solange anrief, bis Elmar Hörig der Weltöffentlichkeit schließlich seufzend verkündete “… und Andrea Heuser bekommt Whitney Husten”. Er sagte wirklich “Husten” anstatt “Houston” und er hatte leider Recht. Ich schenkte die Platte schließlich meiner Mutter zum Geburtstag, die sie dezent verschwinden ließ.

Und dann, eines kühlen Morgens im Juni 1998, sehr viel später also, traf ich auf Gentle Giant. Genauer gesagt, ich trat auf Gentle Giant. Eine CD lag vor meiner Wohnungstür: Gentle Giant. Three Friends. Kein Brief lag dabei, keine Nachricht, nichts. Vom Cover blickte ein kahler Riesenkopf mit rotblondem Bart und einem dünnlippigen Clownsmund aus puppenblauen Augen schelmisch zu mir auf – dieses Geschöpf hätte durchaus aus einem meiner früheren Rollenspielbücher stammen können, so bunt überzeichnet und zugleich treffend war sein Mienenspiel, dass man den gekonnten Übergang von Kitsch zu Kult sofort mit vollzog. Die CD war dabei so platziert, dass ich den Gedanken, jemand hätte sie versehentlich auf dem Weg nach draußen verloren, sofort aufgab. Außerdem, so stellte ich kurz darauf fest, war das Erscheinungsjahr mit Textmarker hervorgehoben: 1972, mein Geburtsjahrgang. Ansonsten schien derjenige (dass es ein Verehrer war, ahnte oder hoffte ich sofort) kein Wort zu viel verlieren zu wollen und ganz und gar auf die Musik zu setzen. Das Geheimnis des Schenkenden hat sich inzwischen gelöst; Gentle Giant aber ist ein Geheimtipp geblieben, bis heute.
Ich ging also anstatt mit der Zeitung mit der CD in mein 14qm Appartement, öffnete einem Sommerregentag die Vorhänge und hörte meine erste Giant. Sechs subtile brillante Songs des sechsköpfigen Riesen, von dem ich in diesem Augenblick so wenig wusste wie von seinem Überbringer. Nichts wusste ich von den spektakulären Live-Auftritten dieser Band, die, was die musikalische Qualität betrifft, zum besten zählen, was in der Geschichte des Rock & Pop je auf einer Bühne zu hören war. Niemand, schon gar keine Gruppe meiner ‚Generation Golf‘ hätte live so spielen können wie die Shulman-Brüder Ray, Derek und Philip, wie Kerry Minnears, Gary Green und Malcom Martimore. Diese Leib-und-Seele-Musikstudenten mit ihren schlecht sitzenden Frisuren und Bärten, die sich nicht scheuten, auch mal eine Blockflöte hervorzuziehen, um kurz darauf die wildesten schmutzigsten und originellsten Sounds auf Gitarre, Drum und Saxophon wie Geige mit einem unnachahmlichen Timing zum Timbre der Stimmen zu produzieren – was aus diesen freundlichen Jungs für ein wirklicher Riese hätte werden können, wenn sie anstatt nur sich selbst auf die Bühne zu stellen auch mal Lederjacken, Jeans und Kontaktlinsen getragen hätten, wer weiß. Die meisten von uns hätten so etwas nötig gehabt für die Bühne des Lebens, sie nicht.

Schooldays: “The bell rings / And all things / Are calling / The days past” … Ich saß in meiner Einzimmerwohnung und 1998, der Juni-Tag zerfloss im Regen. „ And all things / Are calling / The days past” … Ich sitze in einem Aquarium und im dämmrigen Licht schwimmen schillernde Fische. „Went to the sea/ Was it real or did we dream. The days of children gone” … Ein dunkelhaariger, schlaksiger Junge lehnt am Geländer vor der Schule, er wartet, sein ungeschnittenes Haar fällt wie ein Vorhang über sein Gesicht. „Schooldays the happy days when we were going nowhere” … Ich werde ganz nah an dir vorüber gehen, und ich weiß, eines Tages wirst du aufschauen, mich erkennen …
Musik, die wirklich bewegt, bewahrt nicht nur ihren Zauber über die Zeit hinweg. Sie schenkt uns unsere Zeit, einen Tag, eine Lebensphase, einen Augenblick, auch noch einmal neu, darin liegt ihre Magie begründet. Bei Gentle Giant war es anders. Ihre Musik versetzte mich zwar zurück. Aber, so paradox es klingen mag, sie gab mir auch etwas wieder, das ich nicht gehabt hatte – eine Schulzeit, die man in einen Song fassen möchte. Und so hatte ich dank Gentle Giant nun doch noch eine Lederjacke gehabt, unter wildem fettigen Haar mein zu freundliches Gesicht verborgen und rauchend auf dem Schul-Klo gesessen. Ich hatte in Hauseingängen herumgeknutscht, Wodka auf Ex gekippt und wildes Liebesgeflüster mit dem schlaksigen, dunkelhaarigen Jungen gehabt, aber vor allen Dingen „… Schooldays when three said that we’d be friends forever …“ drei Freunde, die in der Erinnerung nur deswegen zu leisen Tönen werden, weil ihr Verlust ein spürbarer ist. Aber das Schönste: auf einmal, ohne dass ich wusste warum, war es normal, für eine lange Lebensstrecke einmal nirgendwo hinzugehen und all die angestaute, unerlöste Zeit fühlte sich mit einem Mal gar nicht mehr so schlecht an, denn sie war vorbei: „… and I think you must go now” … – und genau das tat ich. Ich ging.

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LangenMüller

Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.

Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.