FOLLIET, LUC: NAURU. Die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte. Wagenbachs Taschenbuch 654, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011, 138 S., 10,90 €.
Von Hans-Gert Braun
Nauru (gesprochen Na-uru) ist die kleinste Republik der Welt mit einem Territorium von 21 qkm und ca. 7.000 einheimischen Einwohnern. Es ist ein Staat wie eine Kleinstadt - jedoch mit staatlichem Brimborium: mit Staatspräsident, Ministerien, Botschaftern, Mitgliedschaften in Internationalen Organisationen und Weltsportverbänden etc. Und es hat eine Geschichte mit einem Auf und Ab, das fast jedes „richtige Land“ in den Schatten stellt.
Ursprünglich war Nauru bloß ein unbedeutendes Eiland in Mikronesien, 2.000 km östlich von Papua-Neuguinea, 40 km südlich des Äquators. Die Frauen trugen Faserröcke, die Männer gingen dem Fischfang nach. Die damals ca. 2.000 Einwohner hatten ihre eigene Kultur mit Gesängen, Tänzen, Kunsthandwerk, z. B. Mattenflechterei, mit Matriarchat und natürlicher Lebensweise.
Jäh unterbrochen wurde diese paradiesische Ruhe, als Geologen feststellten, dass der Gesteinsboden, der die Koralleninsel überdeckte, aus hochwertigem Phosphat bestand – im Klartext: aus Vogelmist („Guano“), der sich über hunderttausende von Jahren dort abgelagert hat und dann versteinert ist. Nun fielen Bergbauunternehmen ein (mit Rückendeckung ihrer Heimatländer Deutschland, Großbritannien, Australien, Neuseeland), um diese Bodenschätze ab 1905 auszubeuten. Die Bewohner der Insel partizipierten dabei nur wenig.
Erst sehr viel später, 1968, wird Nauru ein unabhängiger Staat und damit Eigentümer der restlichen, immer noch riesigen Bodenschätze. Nun profitieren Land und Leute von diesem „Segen“. Jedoch, es ist ein Fluch. Die Devisenerträge sind so immens, dass sie die Nauruer schier in Verzweiflung stürzen, weil sie nicht wissen, wie sie das viele Geld ausgeben sollen.
Dabei geben Staat und Bürger diesbezüglich ihr Bestes. Die medizinische Versorgung wird gratis gewährt, ebenso Bildung und Hochschulausbildung – beides vor Ort oder im Ausland. Die Regierung organisiert alle erdenklichen Serviceleistungen für ihre Bürger. Sie importiert sogar ein Heer von Putzfrauen, das die Pflege auch der privaten Häuser auf Staatskosten übernimmt. Die Regierung kauft Hotels, Krankenhäuser und Villenviertel in Australien. Sie baut die Infrastruktur aus einschließlich Flughafen und nationaler Airline (Air Nauru) mit großem Streckennetz und entsprechender Flotte.
Die Bürger werden an den staatlichen Einnahmen direkt beteiligt, auch sie „schwimmen“ im Geld. Längst haben sie jede berufliche Tätigkeit aufgegeben. Die Frauen kochen nicht mehr, man lässt das Essen kommen. Kulturelle Betätigungen werden durch moderne Unterhaltungstechnik ersetzt. Körperliche Bewegung wird auf ein Minimum reduziert, das Auto übernimmt fast alle Funktionen der Mobilität. Autofahren wird zum Volkssport, obwohl die Insel so klein ist und ihre Umrundung nur eine halbe Stunde dauert. Defekte Autos werden nicht repariert; sie werden kurzerhand durch neue ersetzt. Nauru ist das leibhaftige Schlaraffenland – mit allen Nebeneffekten allerdings.
Fettleibigkeit macht sich breit, drei Viertel der Bevölkerung erkranken an Diabetes und Folgekrankheiten – drei ihrer Staatspräsidenten sterben daran nacheinander. Doch die Bevölkerung lebt weiterhin in ihrem Rausch; sie folgt der unkontrollierten Großgruppendynamik. Alle Warnungen, dass die Phosphatvorkommen bald zu Ende gehen, werden in den Wind geschlagen. Prognosen werden ignoriert. Doch dann sind die Ressourcen plötzlich aufgebraucht, gar Jahre früher als prognostiziert.
Nun bricht ein neues Chaos aus. Die Bergbaukonzerne verschwinden „über Nacht“. Sie hinterlassen einen riesigen Schrotthaufen unbrauchbar gewordener Bergbau-Infrastruktur. Und es versiegt der vormals überreiche Strom der hochwillkommenen Deviseneinkommen. Panik bricht aus. Denn Staat und Volk sind nun ganz ohne Einkommen.
Längst haben die Nauruer verlernt, wie man sich traditionell versorgte. Die Fettleibigen leben nun von der Substanz. Mühsam müssen sie elementare Kenntnisse des Fischens, der Haushaltsführung und der Ernährung erst wieder lernen. Da sie die Ausgaben nur langsam drosseln können, verscherbeln sie das Volksvermögen im Ausland und häufen Schulden an. Irgendwann betragen diese eine Viertelmillion australische Dollar – pro Kopf der Bevölkerung. Heulen, Not und Wehklagen bestimmen den Alltag.
Doch dann fällt neues „Manna“ vom Himmel. Australien, das 3.500 km entfernte Nachbarland, weigert sich, afghanische Flüchtlinge aufzunehmen. Sehr schnell ist die Idee geboren, diese nach Nauru zu verbringen und dort auch für sie aufzukommen – gegen Bezahlung. Und weitere hoheitliche Einkunftsquellen werden erschlossen. Als autonomes Land kann Nauru Pässe ausstellen und Staatenlose (einschließlich Mitgliedern von Al-Kaida) damit beglücken – gegen Bezahlung. Als Mitglied der Vereinten Nationen hat man in New York Recht und Stimme. Diese kann man bei Abstimmungen „verkaufen“ – mal zugunsten von Taiwan, mal an die VR China etc. Japan hat Interesse, die Walfangquoten auszuweiten; auch da kann eine nationale Stimme helfen – gegen Bezahlung. Und Pseudobanken („shell banks“) werden errichtet, die einem Zweck nur dienen: der internationalen Geldwäsche. Die Peinlichkeiten an staatlicher Kriminalität nehmen kein Ende. Schritt für Schritt verliert Nauru seine Legitimität. Colin Powell, der US-Außenminister setzt Nauru auf die Liste der Schurkenstaaten („rogue states“).
Erst in den letzten Jahren zeigt sich ein seriöser Hoffnungsschimmer. Geologen haben erkannt, dass unter der abgebauten Phosphatschicht weitere Lagerstätten liegen. Diese sollen nun abgebaut werden – mit mehr Vernunft und Sparsamkeit. Das klingt, als habe der Schock vielleicht doch noch gewirkt. Es bleibt aber abzuwarten, ob das kleine Land wirklich zu einem vernünftigen Verhalten zurückfindet.
Luc Folliet hat die schier unglaublichen katastrophalen Entwicklungen in Nauru nachgezeichnet - plastisch und unterhaltsam. Das naive Wirtschaftsverhalten und die kindhafte Gruppendynamik der Bevölkerung jenseits jeden gesunden Menschenverstandes wurden verdeutlicht. Das Buch kann zahlreichen Regierungen in Entwicklungsländern eine Lehre sein. Aber es gehört gewiss auch in den Schulunterricht bei uns. Denn es kann zeigen, wie schneller Reichtum Menschen und ganze Staaten „entgleisen“ lassen kann – und welche fatalen Folgen ein Leben ohne Beschäftigung, ohne Anstrengung, ohne Aufgabe, ohne gelebte Kultur und ohne Sparsamkeit und vor allem ohne gesunden Menschenverstand zwangsläufig hat.
Insgesamt also ein lesenswertes kleines Buch. Allerdings, dass „der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstört hat“, wie der Untertitel des Buches vorgibt, das vermag der Rezensent nur bedingt nachzuvollziehen.
Prof. Dr. Hans-Gert Braun ist Professor der Volkswirtschaftslehre und war Chefvolkswirt einer internationalen Entwicklungsbank. Unlängst ist sein Buch „Armut überwinden durch Soziale Marktwirtschaft und Mittlere Technologie. Ein Strategieentwurf für Entwicklungsländer“ (LIT Verlag 2010) erschienen.