BERLIN (BLK) – Im September 2009 ist der Roman „Stein der Geduld“ von Atiq Rahimi beim Ullstein Verlag erschienen.
Klappentext: In einem Dorf irgendwo in Afghanistan sitzt eine Frau am Bett ihres schwer verletzten Mannes, der im Koma liegt. Im Zimmer ist es still, draußen hört man Schüsse, die Frau betet. Dann beginnt sie zu reden. Sie erzählt ihm, was sie ihm vorher nie sagen konnte, sie berichtet dem reglos Daliegenden von dem Drama, das die Ehe für sie bedeutet. Wie dem magischen „Stein der Geduld“ aus der afghanischen Mythologie vertraut sie ihm ihren Schmerz an und beichtet ein Geheimnis, das sie seit langem bedrückt. Doch auch die Geduld eines Steins ist nicht unendlich. Atiq Rahimi hat ein großes, eindrucksvolles Buch geschrieben, erzählt in einer wunderbar klaren und poetischen Sprache.
Der 1962 in Kabul geborene Atiq Rahimi hat Literatur studiert. 1984 floh er über Pakistan nach Frankreich, wo er vor allem als Dokumentarfilmer tätig ist. Sein international bekanntes Werk „Erde und Asche“ wurde 2004 verfilmt. (ros)
Leseprobe:
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Das Zimmer ist klein. Rechteckig. Es wirkt stickig, trotz der helltürkisfarbenen Wände und der beiden Vorhänge mit den aufgedruckten Zugvögeln, die an einem gelbblauen Himmel im Flug erstarrt sind. Durch ein paar Löcher im Stoff dringen da und dort Sonnenstrahlen herein und enden auf den verblassten Streifen eines Kelimteppichs. Im hinteren Teil des Zimmers ein weiterer Vorhang. Grün. Ganz ohne Mo tiv. Er verdeckt eine abgeschlossene Tür. Oder einen Abstellraum. Das Zimmer ist kahl. Schmucklos. Nur an der Wand zwischen den beiden Fenstern hängt ein kleiner Handschar, und über dem Handschar das Foto eines schnurrbärtigen Mannes. Er dürfte um die dreißig sein. Gelockte Haare. Eckiges Gesicht, von zwei sorgfältig gestutzten Koteletten eingerahmt. Seine schwarzen Augen glänzen. Sie sind klein, durch eine Adlernase getrennt. Der Mann lacht nicht, sieht aber aus, als hielte er ein Lachen zurück. Das verleiht ihm einen merkwürdigen Ausdruck, den Ausdruck eines Mannes, der sich insgeheim über den Betrachter mokiert. Es handelt sich um ein Schwarzweißfoto, das nachträglich mit matten Farben koloriert wurde. An der Wand dem Foto gegenüber eine rote Matratze, direkt auf dem Boden. Darauf liegt derselbe Mann, älter inzwischen. Er hat einen Bart. Graumeliert. Er ist mager geworden. Zu mager. Nur noch die Haut ist von ihm übrig. Und bleich ist er. Voller Falten. Seine Nase wird dem Schnabel eines Adlers immer ähnlicher. Er lacht auch jetzt nicht. Und er hat noch immer diesen eigenartig spöttischen Gesichtsausdruck. Sein Mund ist halb offen. Seine Augen, noch kleiner geworden, liegen tief in ihren Höhlen. Sein Blick verliert sich an der Decke, irgendwo zwischen den geschwärzten, modrigen Holzbalken. Seine Arme liegen reglos neben dem Körper. Unter seiner durchsichtigen Haut schlängeln sich die Venen wie träge Würmer um die Knochen, die aus seinem Gerippe hervorspringen. Am linken Handgelenk trägt er eine mechanische Armbanduhr und am Ringfinger einen goldenen Ehering. Aus einem Plastikbeutel, der unmittelbar über seinem Kopf an der Wand hängt, rinnt eine farblose Flüssigkeit durch einen Katheter in seine rechte Armbeuge. Der übrige Körper steckt in einem langen blauen, an Kragen und Ärmeln bestickten Hemd. Seine Beine zeichnen sich wie zwei Stöcke unter einem schmutzigen weißen Laken ab. Auf seiner Brust liegt, leicht über dem Herzen, eine Hand, die Hand einer Frau, die sich im Rhythmus seines Atems auf und ab bewegt. Die Frau sitzt. Sie hat die Beine angezogen. Den Kopf auf den Knien. Ihre schwarzen, sehr schwarzen langen Haare bedecken ihre herabfallenden Schultern, die die regelmäßige Bewegung ihres Arms aufnehmen. In der anderen Hand, der linken, hält sie eine lange schwarze Gebetskette. Sie lässt die Perlen durch die Finger gleiten. Stumm. Langsam. Im Gleichtakt mit der Bewegung ihrer Schultern. Oder im Gleichtakt mit dem Atem des Mannes. Ihr Körper ist in ein langes Kleid gehüllt. Tiefrot. An Ärmelenden und Saum mit ein paar dezenten Ähren und Weizenblüten bestickt. Nicht weit von ihr entfernt liegt griffbereit auf einem samtenen Kissen ein Buch, beim Vorsatzblatt aufgeschlagen, der Koran.
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Literaturangabe:
RAHIMI, ATIQ: Stein der Geduld. Ullstein Verlag, Berlin 2009. 176 S., 18 €.
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