FRANKFURT AM MAIN (BLK) – Im Eichborn Verlag erscheint mit „Die Sehnsucht der Atome“ das Krimi-Debüt von Linus Reichlin.
Klappentext: Seit seiner Schulzeit steht es Inspektor Hannes Jensen als warnendes Beispiel vor Augen: das Heliumatom! Das Heliumatom, so hatte damals sein Physiklehrer erklärt, ist nicht getrieben von der Sehnsucht, sich zu binden, und geht mit keinem anderen Atom eine Symbiose ein. Es ist in sich vollkommen, aber auch vollkommen alleine!
Nach Jensens Ansicht ist dieser Fall von Bindungsangst seinem eigenen Schicksal nicht ganz unähnlich. Und so müsste er eigentlich erfreut sein, dass eine bizarre Laune des Universums eine ausnehmend schöne Frau an seine Seite beamt. Die allerdings ist blind, ziemlich herrisch und scheint sich auch nicht sehr für ihn zu interessieren – umso mehr aber für den höchst rätselhaften Fall, der Jensen gerade beschäftigt: Ein amerikanischer Tourist hatte im Kommissariat um Hilfe gebeten, weil er sich bedroht fühlte. Am nächsten Tag fand man ihn tot auf der Straße. Seine Obduktion deutet auf einen Mord, der menschliche Fähigkeiten übersteigt. Was haben seine beiden elfjährigen Söhne damit zu tun, die ihren Vater gehasst haben und spurlos verschwunden sind? Oder deren mysteriöse Kinderfrau, der seherische Kräfte nachgesagt werden? Und nicht zuletzt: Wie soll der Hobby-Quantenphysiker Jensen das in Ruhe herausfinden, wenn ihm die schöne Blinde immer dazwischenfunkt? (…)
Linus Reichlin , geboren 1957, begann nach längeren Aufenthalten in Südfrankreich und Kanada Reportagen zu schreiben, für die er 1996 mit dem „Ben Witter-Preis“ der ZEIT ausgezeichnet wurde. „Ungewöhnliche Themen, effektvolle Dramaturgie, mitreißende Sprache“, schrieb die ZEIT über seine Reportagen. Seit zehn Jahren schreibt Reichlin, der in Zürich und Berlin lebt, mit großem Erfolg Kolumnen. Die Sehnsucht der Atome ist sein erster Roman.
Leseprobe:
© Eichborn Verlag ©
Am ersten seiner fünf letzten Tage saß Jensen an seinem Pult, und draußen stand eine Kutsche im Regen. Der Kutscher, eingewickelt in eine schwarze Pelerine, saß vornübergebeugt auf dem Bock. Der Hut war ihm ins Gesicht gerutscht, er schien zu schlafen. Die Pferde schüttelten sich, sie waren unruhig, sie stießen kleine Nebelwolken aus ihren Nüstern.
Etwas stimmt nicht, dachte Jensen.
Er schaute auf die Wanduhr. Seit acht Minuten beobachtete er den Kutscher, und während dieser Zeit hatte sich dessen Oberkörper zusehends stärker nach vorn geneigt, bald würde dem Mann der Hut vom Kopf fallen. Jensen konnte sich nicht erklären, weshalb der Kutscher ausgerechnet vor dem Polizeigebäude auf Touristen wartete. Es war das hässlichste Gebäude von Brügge, die Touristen kamen in diese Gegend nur, um den Diebstahl ihrer Handtasche zu melden. Davon abgesehen regnete es seit drei Wochen, das musste dem Kutscher doch aufgefallen sein. Es gab keine Touristen in diesem August, allerdings auch keine Wespen. Dieser Kutscher musste ein Optimist sein, ein unvernünftiger Mensch. Einer, der auf dem Kutschbock im Regen schlief, weil er an glückliche Wendungen glaubte, an einen unvermuteten Wetterumsturz, plötzlichen Sonnenschein, der Touristen aus dem Boden sprießen ließ und mit ihnen die Kleinkriminellen, die ihnen die Handtasche entrissen, sodass die Touristen gezwungen sein würden, hierher zur Polizeistation zu kommen, wo er auf seinem Bock auf sie wartete, nass, aber ausgeschlafen.
So stellt er sich das wahrscheinlich vor, dachte Jensen verärgert.
Er wandte seinen Blick von dem Kutscher ab, er schaute auf die Wanduhr: Weitere siebeneinhalb Stunden galt es zu erschlagen. Die anderen, die Kollegen, beugten sich über unerledigte Akten, manche stützten mit den Händen ihren Kopf, der vor Langeweile schwer geworden war. Die Bürosessel knackten, wenn die Kollegen ihr Gewicht verlagerten. Man konnte nicht immer in derselben Stellung sitzen, das wäre Yoga gewesen, und die Kollegen waren Bewegungsmenschen. Sie wären gern über Hecken gesprungen oder zur nächsten Deckung, ein Spurt über das Brügger Kopfsteinpflaster, einem Taschendieb auf den Fersen, dafür waren ihre Körper weit besser geeignet als für das Sesselfurzen. Sie nannten es so, weil sie tatsächlich, wenn sie zu längerem Herumsitzen gezwungen waren, unter erhöhter Flatulenz litten. Jensen schaute wieder aus dem Fenster. Der Kutscher hatte seinen Hut noch auf, wenngleich dessen Schräglage sich verstärkt hatte. Wenn er ihm vom Kopf rutscht, dachte Jensen, gehe ich runter und schaue nach, ob er wirklich nur schläft.
Ein Kollege räusperte sich. Dann war es wieder still.
Stassen, der am Pult vor Jensen saß, kratzte sich mit einem Bleistift am Rücken. Mit der Bleistiftspitze, wohlbemerkt. Er verkritzelte sein blaues Uniformhemd.
Bleistift geht schwer raus, dachte Jensen. Als jemand, der selber wusch, wusste er das.
Noch fünf Tage, immer noch. Da die Zeit mit dem Raum untrennbar verbunden war, hätte gemäß der Speziellen Relativitätstheorie einzig eine sehr schnelle Bewegung durch den Raum diese fünf Tage auf ein erträgliches Maß schrumpfen lassen, aber eben gerade nicht für den, der sich schnell bewegte, das war die Crux an der Sache. Es war hoffnungslos. Jensen musste die Zeit auf andere Weise als durch Raumflüge bewältigen; er entschied sich für müßige Gedanken. Er dachte an die kleine Glasplatte, die er sich hatte anfertigen lassen, als Trennwand für das Doppelspaltexperiment. Dieses Experiment war sein einziges Projekt für die Zeit nach der Frühpensionierung. Der Physiker Richard Feynman hatte einmal gesagt, das Experiment beinhalte das ganze Geheimnis der Quantenphysik und damit das der Beschaffenheit der Welt schlechthin. Es im eigenen Keller durchzuführen war also eine lohnende Aufgabe, fand Jensen, für jemanden, der im Alter von fünfzig Jahren den Dienst quittiert hatte.
Nur musste zuvor noch die Verabschiedungsrede überstanden werden. Stassen skizzierte sie mit seinem Bleistift wahrscheinlich soeben auf einem Blatt Papier.
Jensen schloss die Augen.
Er stellte sich vor, was Stassen nach Ablauf der fünf Tage sagen würde, wenn es soweit war, wenn die Kollegen sich im Halbrund um Jensen versammelten, jeder mit einem Glas Orangensaft in der Hand: die Verabschiedungsrede.
Inspecteur Hannes Jensen, würde Stassen sagen. Geboren und aufgewachsen in Konstanz. Das ist eine Stadt in Deutschland, wie ihr vielleicht wisst. Ja, er ist Deutscher, aber inzwischen spricht er besser Flämisch als manch einer von uns. Wenn man einmal von seinem Akzent absieht und den Wörtern, die ihm manchmal fehlen, und die er dann durch deutsche Wörter ersetzt, weil er natürlich weiß, dass wir alle sehr gut Deutsch sprechen, im Grunde unseres Herzens. Wenn vielleicht der Krieg nicht gewesen, wenn der von uns allen geschätzte Großvater von Hoofdcommissaris Dupont nicht von den Deutschen aufgehängt worden wäre, ja dann. Dann wäre ich womöglich nicht der einzige Kollege, dem es ein Anliegen ist, diese Rede überhaupt zu halten. Einige von euch werden jetzt denken: Kein Wunder, Stassen ist ja selbst ein halber Deutscher, man braucht sich nur einmal seine Mutter anzusehen. Denen kann ich nur sagen: Leckt mich am Arsch! Es war die Liebe, die meine Mutter nach Flandern gebracht hat, und nichts anderes als die Liebe hat auch unseren Kollegen vor fünfzehn Jahren nach Brügge geführt. Die Liebe zu Margarete Streuper, der Tochter des uns noch allen wohlbekannten Stadtrates Jan Streuper, durch dessen Protektion unser Kollege zu seinem Posten als Inspecteur gekommen ist. Ich nenne es Protektion, um es nicht Mauschelei nennen zu müssen, Vetternwirtschaft oder gar Korruption. Und nun möchte ich dich fragen, lieber Freund Hannes: Wovon wirst du nach deinem ungewöhnlich frühzeitigen Ausscheiden aus dem Dienst leben? Von Margaretes nicht unerheblichem Erbe? Sehe ich das richtig? Wäre es nicht an der Zeit, dass du aussprichst, was hier alle denken?
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Literaturangaben:
REICHLIN, LINUS: Die Sehnsucht der Atome. Kriminalroman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 368 S., 19,95 €.
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