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„Die fröhlichen Untergeher von Roana“

Karl-Markus Gauß ist „Unterwegs zu den Assyrern, Zimbern und Karaimen“

© Die Berliner Literaturkritik, 20.03.09

 

WIEN (BLK) – Im Februar 2009 ist im Zsolnay Verlag das Buch „Die fröhlichen Untergeher von Roana. Unterwegs zu den Assyrern, Zimbern und Karaimen“ von Karl-Markus Gauß erschienen.

Klappentext: Karl-Markus Gauß ist berühmt für seine Kunst der Reisereportage. Nun ist er aufs Neue aufgebrochen, um uns „das Staunen über Europa zu lehren“ (FAZ). In Schweden traf er auf selbstbewusste junge Assyrer, verfolgte Christen aus dem Orient, die einst fliehen mussten, sich nun erfolgreich in ihrer neuen Heimat behaupten und zugleich davon träumen, die alte wiederzugewinnen. Im abgelegenen Gebirge in Norditalien begegnete er den letzten Zimbern, lebensweisen Untergehern, die die älteste Form des Deutschen sprechen und wohl wissen, dass nicht nur ihre eigenen Tage, sondern die der zimbrischen Kultur gezählt sind. Und er war in Litauen bei den geheimnisvollen Karaimen, von denen sich die einen für Angehörige eines verlorengegangenen jüdischen Stammes halten und die anderen es strikt ablehnen, etwas mit dem Judentum zu tun zu haben. Karl-Markus Gauß hat sie besucht und wundersame Geschichten von seinen Reisen ins Unbekannte mitgebracht.

Karl-Markus Gauß, geboren 1954, hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schreibt für große Zeitungen wie die „ZEIT“, die „FAZ“, die „NZZ“ und „Die Presse“. Er ist Autor und Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ und lebt heute in Salzburg. Der Essayist erhielt 2006 für sein Gesamtwerk den „Georg-Dehio-Buchpreis“ des Deutschen Kulturforums östliches Europa sowie den „Manès Sperber-Preis“ und 2007 den Mitteleuropa-Preis. (jud)

Leseprobe:

© Zsolnay ©

Im Oktober 2005 fuhr ich nach Schweden, um endlich die Assyrer kennen zu lernen. Ich traf sie in Göteborg und Örebro, Linköping und Norrköping, in Södertälje und Stockholm, und die meisten wunderten sich nicht, dass ich mich für sie interessierte und die ältesten Christen des Orients ausgerechnet im Norden Europas suchte. Wohin sonst sollte ich reisen, um Assyrern zu begegnen? In der Türkei leben nur mehr zwei-, dreitausend von ihnen; Hundertmal mehr sind dem »Seyfo« zum Opfer gefallen, dem Völkermord, den die türkischen Nationalisten 1915 an ihnen verübten und mit dem die Welt, die sich nur widerstrebend an den Genozid zu erinnern begann, der an den Armeniern verübt wurde, auch weiterhin nicht behelligt werden möchte. Im Irak, wo Saddam Hussein sie systematisch verfolgen ließ, haben sie zu Beginn des zweiten Irak-Krieges wohl eine Million Menschen gezählt. Seitdem der evangelikale Christ George W. Bush seine Truppen in das Land entsandte, sind sie auf der Flucht, ihre Kirchen brennen, ihre Politiker und Priester werden entführt und ermordet. Im Iran halten sie sich still und versuchen die Religionswächter durch fromme politische Apathie zu beschwichtigen. In Damaskus residiert zwar Seine Heiligkeit Mor Ignatius Zakka Iwas, der Patriarch der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien – einer der fünf christlichen Kirchen, die sie im Laufe der Jahrhunderte gegründet haben –, doch im ganzen Land sind sie dem aberwitzigen Spitzelwesen ausgesetzt, mit dem die Geheimdienste das gesellschaftliche Leben Syriens zerstörten. Nach Georgien konnten sich während des Seyfo ein paar Hundert Familien retten, deren Nachkommen sich aber großteils der Staatsnation assimiliert haben; und in Russland, wo die ersten assyrischen Gemeinden von Flüchtlingen aus Persien schon um 1830 gegründet wurden, in Russland haben Assyrer in Demonstrationen auf den Untergang der assyrischen Christen im Irak aufmerksam zu machen versucht, doch dass sie in Moskau und Rostov am Don auf die Straße gingen, wurde weder in der russischen noch in der internationalen Presse vermeldet.

Drei Millionen Assyrer leben heute verstreut in Kanada und den USA, in der Schweiz, in Holland oder Frankreich. Höchst aktive Gemeinden bilden sie in Berlin, Paderborn, Gütersloh, Augsburg, doch sind sie, die das seit Jahrzehnten fordern, ausgerechnet in Deutschland nie als Assyrer anerkannt worden. Um überhaupt ins Land zu gelangen, müssen sie sich als Türken ausweisen, obwohl sie doch gerade vor dem türkischen Nationalismus aus ihrer Heimat geflohen sind; oder sie gelten als Kurden, dabei waren es in Anatolien vornehmlich Kurden, die sich in der Entrechtung, die ihnen selbst widerfuhr, als Muslime an den christlichen Assyrern schadlos hielten, die sie von ihren Feldern, aus ihren Häusern und Dörfern vertrieben und, gedeckt vom türkischen Militär, das sie sonst Grund hatten zu fürchten, in Pogromen massakrierten.

Wo sollte ich also die Assyrer suchen wenn nicht in Schweden, von wo die Bewegung ausging, die über die Kontinente versprengten Assyrer nicht mehr als die Christen der ersten Jahrhunderte, sondern als moderne Nation in der Diaspora zu einen? Davon wusste ich allerdings noch nicht viel, als ich in Göteborg landete und meine Adressen assyrischer Kulturvereine, Fernsehstationen, Fußballclubs, die Telefonnummern von Schweden, die Namen wie Gabriel Afram, Robil Haidari, Fuat Deniz oder Metin Rahwi hatten, sichtete. Aber dass es nur in Schweden geschehen konnte, das erfuhr ich, als ich sie, die skandinavischen Christen des Orients, kennen lernte und begriff, dass ich für eine assyrische Reise genau das richtige Land ausgewählt hatte.

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Es war in der zweiten Klasse des Gymnasiums, ich stand an der Tafel vor einer riesigen Landkarte und sah, wie sich das Gesicht des brüllenden Professors Woschnak rot färbte. Verzweifelt versuchte ich auf der Karte mit ihren braun, grün und blau verschwimmenden Flächen das Gebiet der Assyrer zu finden. Professor Woschnak nahm es persönlich, wenn ein Schüler sich unwissend zeigte, dabei brachte ich jetzt nicht vorsätzlich alles durcheinander, Sumerer, Akkader, Assyrer, und ehe ich an die Tafel gerufen wurde, hatte ich noch genau gewusst, wo ich Mesopotamien finden würde, wo Babylon und wo Ninive. All die Namen, wie sollte man sie auseinander halten, das Herrschaftsgebiet der einen, das Reich der anderen und erst ihre wechselnden Hauptstädte! Selbst zehn Jahre später, als ich Geschichte studierte, kam mir jene des Alten Orients immer höchst verwirrend vor, so viele Namen für dieselben Regionen, so viele verschiedene Stämme, die Staaten gründeten, indem sie andere zerstörten, Sumer im Süden Mesopotamiens, Akkad, das über Mesopotamien hinausreichte, das altassyrische, babylonische, mittel- und neuassyrische, das neubabylonische Reich …

Das terminologische Durcheinander hat sich viertausend Jahre gehalten. Als ich es mit den Assyrern von heute zu tun bekam, hörte ich, je nachdem mit wem ich sprach, für dieselbe Sache immer andere Bezeichnungen. Über Begriffe, Namen, Wörter stritten sie unentwegt, und ich war mir nie sicher, ob sie gerade nur einen günstigen Anlass nutzten, um ein wenig heftiger zu debattieren, oder ob sich hinter ihrer Auseinandersetzung um Begriffe politische oder religiöse Differenzen verbargen, die nicht bloß der narzisstische Ehrgeiz von Vereinsmeiern aufgerissen hatte. Aber wenn ich Genaueres wissen wollte, wurde mir von denen, die sich eben noch attackiert hatten, einträchtig beschieden, dass die Konfusion der Begriffe ein Erbe der langen Unterdrückung sei und ich mich davon nicht verwirren lassen dürfe, denn im Grunde meinten sie ohnedies alle dasselbe.

So ermutigt, wog ich es nicht pedantisch, ob sich mir jemand als Assyrer, Suryoye oder Süryani vorstellte und er selber seine Sprache für Assyrisch, Aramäisch oder Syriak hielt. Auch ob sie zutreffend als syrisch-orthodoxe Christen, Jakobiten oder Nestorianer zu bezeichnen wären, schienen sie, zumindest wenn ein Fremder wie ich sie danach fragte, für unerheblich zu halten, und sogar den Unterschied zwischen der Assyrischen Kirche des Ostens und der Chaldäisch-katholischen Kirche redeten sie mir gering: Streit, wie er zwischen die Assyrer gesät wurde, um sie gegeneinander aufzubringen und besser über sie herrschen zu können. In ein paar Jahren sei derlei abgetan, weil die Assyrer in aller Welt begriffen haben würden, dass es ein Triumph ihrer Feinde sei – und sie hatten welche –, dass sie nicht nur in mehrere Kirchen und unzählige politische Fraktionen zerfallen, sondern sich sogar darüber uneins waren, wer sie überhaupt seien und wie sie sich selber korrekt zu nennen hätten. Verwundert zwar, verstand ich immerhin so viel: Die Assyrer, die ich im Jahr 2005 nach Christus traf, Metallarbeiter, Gemüsehändler und Universitätsdozenten, Fromme, Skeptische und gänzlich Unfromme – sie alle leiteten ihre historische Identität gleichermaßen von den vorchristlichen Völkern Mesopotamiens und den frühesten christlichen Kirchen des Orients her. Über das eine mag man ungläubig sein europäisches Haupt schütteln, weil die Franzosen sich nur mehr im Scherz ernsthaft als Erben der Gallier und die Deutschen sich lieber nie mehr als die der Vandalen oder Goten empfinden mögen. Das andere hat die Assyrer so lange überleben lassen: Bis ins 20. Jahrhundert herauf waren sie niemand anderer als eben die Christen des Orients gewesen, deren Sprache jener ähnlich sein musste, die Jesus mit seinen Jüngern gesprochen hat. Zu Zeiten, als die osmanischen Sultane herrschten, war die Bevölkerung, die auf dem Gebiet der späteren Türkei lebte, fast zu einem Drittel christlichen Glaubens gewesen; jahrhundertelang hatte sie sich, bald missachtet, bald toleriert, in der muslimischen Welt halten können. Es blieb dem laizistischen Staat der Moderne vorbehalten, dafür zu sorgen, dass es binnen hundert Jahren weniger als 0,01 Prozent wurden, denen dafür periodisch vorgeworfen wird, den Islam durch christliche Missionsarbeit zu bedrohen.

Über Tatsachen wie diese redeten sich viele Assyrer, die ich traf, in eine Erregung hinein, die rituelle Züge und einen stark rhetorischen Charakter zu haben schien. Selbst in ihrem geradezu routinierten Zorn wussten sie aber genau, dass sich eine moderne assyrische Nation nicht allein auf mesopotamischen Mythen und frühchristlichen Traditionen gründen ließ und dass sie ihre Zukunft anders als im romantischen Rückgriff auf eine kolossale Vorzeit und in der nachgetragenen Empörung über all das Unrecht, das ihnen seither widerfahren war, entwerfen mussten.

© Zsolnay ©

Literaturangaben:
GAUSS, KARL-MARKUS: Die fröhlichen Untergeher von Roana. Unterwegs zu den Assyrern, Zimbern und Karaimen. Mit Fotografien von Kurt Kaindl. Zsolnay, Wien 2009. 160 S., 17,90 €.

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