Werbung

Werbung

Werbung

Die Kraft des agonalen Denkens

Das neue Werk von Karl Heinz Bohrer ist als Taschebuch erschienen

© Die Berliner Literaturkritik, 26.09.11

MÜNCHEN (BLK) – Im Carl Hanser Verlag ist im September 2011 „Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken“ von Karl Heinz Bohrer erschienen. Der Literaturtheoretiker und Publizist ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld.

Klappentext: Das Denken, dem es um wirkliche Erkenntnis geht, sucht die Auseinandersetzung. Der Verdacht gegen das konventionelle Argument hält den Geist beweglich. Karl Heinz Bohrer sucht am Beispiel von Leitmotiven in Philosophie, Literatur und Politik das Originelle an ihnen zu entdecken. Der rote Faden seiner Abhandlungen und Vorlesungen ist der Verdacht gegen führende Ideen, und aus dieser Perspektive betrachtet er auch gegenwärtige Debatten, seien es die Achtundsechziger oder das Ende der DDR. Seine Essays beweisen die Kraft des agonalen Denkens, als Zugang zur ehrlichen Erkenntnis der Dinge.

Karl Heinz Bohrer wurde 1932 in Köln geboren, nach Schule und Studium war er von 1968-1974 Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ab 1975 ging er als Korrespondent der FAZ nach England. 1978 erfolgte seine Habilitation an der Universität Bielefeld, wo er von 1982 an den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte inne hatte. Von 1984 - 2011 war Karl Heinz Bohrer Herausgeber des Merkur (seit 1991 gemeinsam mit Kurt Scheel). Seit 2003 ist er Visiting Professor an der Stanford University. Karl Heinz Bohrer lebt in Paris und London. Bis zu ihrem Tod (2002) war Bohrer mit der Schriftstellerin Undine Gruenter verheiratet.

Leseprobe:

©Carl Hanser Verlag©

Was heißt unabhängig denken?

Die Formel „Unabhängigkeit des Denkens“ ist eine geläufig gewordene Qualifikation.Manist geneigt, sofort sagen zu können, was das ist – das Denken als Unabhängiges. Die Formel gehört zu jenen Attributen im intellektuellen Wertekanon, die wahrscheinlich jeder Intellektuelle gerne für sich selbst in Anspruch nimmt und die bei Laudationes das nächstliegende Prädikat des zu Belobigenden ist: Was in Wirklichkeit ganz selten ist, wird gemeinhin als ganz kommun gehandelt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass das Wort „unabhängig“ moderne Charakteristika wie „frei“, „individuell“, „eigenwillig „, „selbständig“ impliziert. Daher zunächst etwas zur Klärung dessen, was unabhängiges Denken eigentlich heißen kann.

  Im scharfen Kontrast zu der Annahme einer Symmetrie der beiden Worte verhält es sich doch so, dass Denken – modernes und vormodernes – gerade durch Abhängigkeit, Bezugnahme geprägt ist. Gedanken, vor allem systematisch formulierte, sind ohne Abhängigkeit von anderen Gedanken meist gar nicht möglich. Eine solche Abhängigkeit sei einmal eine formale genannt. Das macht sie aber noch nicht abhängig im pejorativen Sinne. Innovatorische Philosophen wie Hegel und Heidegger beziehen sich auf vorangegangene Philosophen und kommen durch das Innovatorische zu ihrem unabhängigen Urteil. Sie sind unabhängige Denker par excellence. Umgekehrt ist unsystematisches Denken, das sich auf niemanden bezieht, nicht notwendigerweise unabhängig. Es ist es nämlich dann nicht, wenn es nicht innovatorisch ist, sondern bloß ein individuelles Meinen, so charaktervoll und subjektiv selbstbewusst es auch sein mag. Einem vorhandenen Gedanken zu widersprechen, ist sehr viel leichter, als einen neuen Gedanken zu entwickeln. Kant fand in dieser Differenz das Kriterium des Genies.

Unterstützen Sie unsere Redaktion, indem Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen kaufen! Vielen Dank!

  Offenbar ist das Charakteristikum des Innovatorischen, also das objektive Merkmal einer Differenz des Gedankens zu anderen Gedanken, zunächst einmal wesentlich bei der Frage, wann ein Denken unabhängig ist. Die ähnliche Kategorie lautet dann „originell“. Das hätte sofort auch Konsequenzen für die Form, den Stil: Denn unabhängiges Denken der erwähnten Philosophen Hegel oder Heidegger zeigte sich auch daran, dass beide einen hochgradig artikulierten Individualstil sozusagen erfanden, eben als Mittel ihres neuen Denkens. Man würde das nicht von Thomas von Aquin oder Immanuel Kant sagen wollen. Diese sind Systemdenker, bei denen die Charakterisierung „Unabhängigkeit des Denkens“ nicht so selbstverständlich aufkäme. Nicht deshalb nicht, weil sie abhängig wären oder nicht innovatorisch, sondern weil sie sich im System definierten, insofern sie systemdefiniert waren.

  Ganz anders liegt der Fall beim gelehrt-philologischen Denken, denn viele geisteswissenschaftliche Arbeiten, so intelligent sie auch sind, zeugen nicht von einer Unabhängigkeit des Denkens, sondern gerade vom Gegenteil. Die Fußnote, der Bezug auf schon gespeichertes Wissen, spielt ja dort eine ausschlaggebende Rolle, besonders in der deutschen Gelehrtentradition, die deshalb lange berüchtigt war für unlesbare, aber umso gelehrtere Wälzer, und ist noch immer bekannt dafür, dass ihre Studenten mehr zur Lektüre von Sekundärliteratur denn zum selbständigen Nachdenken erzogen werden. Ein anderes Beispiel wäre die deutsche Nachkriegsphilosophie, die im Schatten ihrer eigenen großen Tradition stand, so dass die meisten Lehrstuhlinhaber Philosophieexegese und Philosophiegeschichte betrieben, aber kein eigenes Denken produzierten, wie das doch in Frankreich, den USA und auch in England geschah. Dies setzt allerdings nicht die Einsicht außer Kurs, dass Kenntnisse vor sogenannten Erfindungen schützen sollten.

  Und damit ist das Kriterium genannt, das man wohl mit dem Begriff „Unabhängigkeit des Denkens“ zu Recht verbindet: die Individualität, die subjektorientierte Eigenschaft. Wenn klar ist, dass Denken sehr wohl sich auf anderes Denken bezieht oder beziehen kann, darf man so weit gehen und sagen, dass die moderne Erwartung auf unabhängiges Denken sich meist nicht auf Systemdenken bezieht, sondern auf ein Denken, das aufgrund sehr individueller Impulse seine innovatorische Qualität hat oder den Mut besitzt, dominierenden Denkmotiven zu widersprechen – und diesen Widerspruch in Neuem zu begründen. Die Gefahr, dass der Begriff „unabhängig „ zum Kennwort für eine marktgängige Exzentrik schmilzt, dessen Unterhaltungswert größer ist als sein Denkwert, ist dann ausgeschlossen.

  Umgekehrt ist der Fall, wenn denkerische Originalität im spezifisch modern verstandenen Sinne als „eigenwillig“ oder gar „eigensinnig“ qualifiziert wird. Das ist dann die gönnerhafte Zuordnung der Unabhängigkeit, die Ausnahme geworden ist, durch den biederen Normalfall. Es läge nun nahe, unabhängiges Denken im definierten Sinne an einem zeitgenössischen Beispiel zu beschreiben. Da sich dabei sofort aber die Frage erhebt, ob und wie Unabhängigkeit im von Wissensarchiven und Medien beherrschten zeitgenössischen Diskurs überhaupt möglich ist, gehe ich erst einmal auf historische Distanz, um von dort aus das, was heute ist, genauer beobachten zu können: also ein Blick auf unabhängiges Denken in seiner klassischen Erscheinungsform. Daraus wären dann Kriterien für die Gegenwart zu gewinnen.

  Dass Innovatorik nicht allein den Begriff des unabhängigen Denkens bestimmt, sondern Individualität, zeigt sich daran, dass einem auf der Suche nach charakteristischen Beispielen vornehmlich Denker von großer individueller Prägekraft einfallen, deren Genre nicht das System, sondern der Essay war, ja die eine Skepsis gegenüber dem System oft zu ihrem Thema gemacht haben. Damit verbindet sich eine zweite Eigenschaft: Viele dieser Systemskeptiker waren ganz folgerichtig auch politische Antisystematiker, das heißt, die historischen Vertreter eines unabhängigen Denkens würde man nicht unter den Großen der politischen Rede suchen. Von den französischen Moralisten über Lessing, Hamann und Lichtenberg bis zu Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche, Oscar Wilde, Georg Simmel und Helmuth Plessner, ganz zu schweigen von Hannah Arendt, Albert Camus, Raymond Aron und Roland Barthes, haben wir es mit Denkern zu tun, die entweder die jeweils dominierende Denkform oder die dominierende Politikform kritisch perspektivierten. Die Genannten taten das allerdings nicht im Sinne einer symmetrischen Opposition, etwa als Vertreter politischer Opposition, sondern aus denkerischen Impulsen.

  Es gibt unter dem essayistischen Typus zwei Denker, die für das moderne unabhängige Denken vor allem interessant geworden sind und seitdem auch blieben, nämlich Montaigne und Friedrich Schlegel. Auf der Basis der bei ihnen zu beobachtenden Eigenschaften von selbständigem Denken könnte man klären, ob und wie solche Selbständigkeit in unserer Gegenwart noch möglich ist, wobei ein Dritter, nämlich Friedrich Nietzsche, der Stichwortgeber werden soll. Natürlich meinen diese Namen nur Idealformen, die nicht kurzgeschlossen werden können mit möglichen aktuellen Formen unabhängigen Denkens. Zeitgenössische Autoren unabhängigen Denkens können ohnehin nicht den historischen Rang von Montaigne und Schlegel einholen.

  Zunächst ist ein Missverständnis auszuräumen: Mit Individualität ist nicht Montaignes berühmtes autobiographisches Projekt gemeint, das er in seiner Vorrede an den Leser hervorkehrt und das seitdem, nicht zuletzt wegen Rousseaus autobiographischer Bezugnahme, bei der modernen Intelligenz Karriere gemacht hat und heute alles andere als originell ist. Es geht auch nicht um die Anwendung des sokratischen Prinzips „Erkenne dich selbst“, dem Montaigne so emphatisch folgt und das inzwischen ebenfalls zur Ausrüstung jeder konventionellen Autobiographie gehört. Vielmehr ist der zentrale Gedanke gemeint, dass die Individualität des Ich nicht als identisch und in der Zeit kontinuierlich gedacht wird. Und das hat wiederum nichts mit der inzwischen abgenutzten Rimbaudschen Formel „Ich ist ein anderer“ zu tun! Es ist ganz ohne solche Prätention gedacht, im Stile einer ruhigen Beobachtung des Alltags gemeint. Damit hängt zusammen die Relativierung jeder nachdrücklichen Aussage, geschweige Wahrheitsannahme und schließlich die Ablehnung der traditionellen Ontologie. Wie weit Montaigne dabei unter dem Einfluss der sogenannten pyrrhonischen Skepsis des Sextus Empiricus stand, ist hier nicht von Belang, denn Montaignes gedankliches Prozedere läuft auf eine lebenspraktischere Einsicht hinaus, ist nicht der Ehrgeiz erkenntnistheoretischer Spekulation. Charakteristisch dabei ist, was er der skeptischen Philosophie vorwirft: den Mangel an einer „neuen Sprache“. Den innovatorischen Charakter, den ihre Skepsis haben mag, bemisst er am Ende an ihrem sprachlichen Ausdruck. Damit hat Montaigne eigenhändig das auch für uns noch charakteristische Kriterium der „Unabhängigkeit“ erfunden, ohne es schon wirklich zu thematisieren.

©Carl Hanser Verlag©

Literaturangabe:

BOHRER, KARL HEINZ: Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken. Carl Hanser Verlag, München 2011. 224 S., 19,90 €.

Weblink:

Hanser


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: