Von Peter Schulz
Als im vergangenen Jahr vor dem Brandenburger Tor große bunte Dominosteine fielen, die Menschen im Regen den Mauerfall feierten und die Regierungschefs von Freiheit sprachen, da wünschte man sich fast die Mauer zurück, um diesen Kindergeburtstag nicht erleben zu müssen. Alles war ein großes Ereignis voll von Freude, voll von Glücksgefühlen, dass die Deutschen seit zwanzig Jahren ein Volk sind, unter einer Kanzlerin, die ihre eigene Biographie dazu missbrauchte, dieser Feierlichkeit den Stempel der Wahrhaftigkeit aufzudrücken. Die Furcht ist groß, dass am 3. Oktober 2010, dem 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, die Politiker sich lächelnd die Hände reichen, als hätten sie höchstpersönlich den ersten Schritt zur Deutschen Einheit vollbracht. Fragen nach dem, was die DDR war, wie 17 Millionen Menschen ihren Alltag bestritten und wie schwer es für manche ist, nach 40 Jahren Sozialismus in einer anderen Gesellschaft zu leben, sind Fragen, die ein wenig Nachdenken erfordern und in einem Vakuum aus Selbstbeweihräucherung nicht gebraucht werden.
Ob die bessere deutsche Nachkriegsliteratur aus der DDR stammt, soll an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Aber womöglich sollten die aus der DDR stammenden Schriftsteller gelesen werden, wenn jemand einen kleinen Einblick in den Alltag des Arbeiter-und-Bauern-Staates bekommen möchte. Und gerade die jungen Menschen, die höchstens noch aus Erzählungen von Eltern oder Verwandten von der DDR hören, die nach bestandenem Abitur studieren, nach Frankreich, Neuseeland oder Kanada gehen, könnten damit beginnen, die Erzählung „Ankunft im Alltag“ zu lesen. Mit diesem Buch, das von drei Abiturienten in einem Betrieb handelt, begründete die 1933 geborene Schriftstellerin Brigitte Reimann, die nicht einmal 40-jährig 1973 an Krebs starb, die Ankunftsliteratur.
Dieser von ihr beschriebene Großbetrieb ist kein geringerer als der Kohleveredlungsbetrieb nahe der Stadt Hoyerswerda, der auf Grundlage des Ministerratsbeschlusses vom 23. Juni 1955 die ersten Maßnahmen in die Wege leitete und später unter dem Namen Gaskombinat Schwarze Pumpe bekannt wurde. Wenige Jahre später entwickelt sich das Gaskombinat Schwarze Pumpe wegen des steigenden Bedarfs in der DDR zum größten Braunkohleveredlungsbetrieb der Welt. Brigitte Reimann selbst zieht 1960 nach Hoyerswerda, um – der „Bitterfelder Weg“ war ein Jahr zuvor, 1959, mit einer Autorenkonferenz im VEB Chemiekombinat Bitterfeld ausgerufen worden und sollte den künstlerischen Bedürfnissen der Arbeiter entgegenkommen – in einem Betrieb zu arbeiten und die Werktätigen bei künstlerischen Ambitionen zu unterstützen. Die Schriftstellerin schrieb dort ihre Erzählung „Ankunft im Alltag“, die schon ein Jahr nach dem Umzug nach Hoyerswerda (1960) veröffentlicht wurde.
Das Buch handelt von Recha, Nikolaus und Curt, die nach dem Abitur ein Jahr in einem Großbetrieb arbeiten. Die drei treffen sich am Bahnhof, beziehen ihr Quartier und der Leser lernt sie schnell kennen: Recha, deren Mutter im Konzentrationslager starb, ist von der Zeit des Nationalsozialismus geprägt – wie alle Figuren in diesem Buch. Ihr Vater, den sie nicht bei seinem Namen ausspricht, ließ sich ein halbes Jahr nach der Geburt Rechas aus Bedrohung durch die Nazis von seiner jüdischen Frau scheiden. Dieser Hass auf den Vater muss groß sein; als ihre Zimmergefährtin sie nach ihrer Mutter fragt, entfährt ihr ein aggressives „Vergast“. Die Frage nach ihrem Vater beantwortet sie mit beiläufigem Desinteresse: „Vater? Weiß nicht. Muss wohl einen gehabt haben“ und spricht aus, was sie sich insgeheim wünscht: dass er an der Front gestorben ist und nie wieder kommen wird. Doch es gibt auch eine weiche, freundliche Seite an Recha. Als sie gefragt wird, ob sie „irgendwelche Sonderwünsche“ hätte, entgegnet sie „Schwarze Pumpe“ und begründet es damit, „weil es so romantisch klingt […]“. Sie ist begeisterungsfähig, manchmal furchtlos, dann aber wieder schüchtern, melancholisch, nachdenklich, besonders wenn sie abends im Bett liegt, nicht einschlafen kann und sich ausmalt, wie sie ihre Entscheidung hätte mitteilen sollen: „Ich habe nüchternen Verstand genug – hätte sie sagen sollen –, um meine Schwächen zu erkennen: Mangel an Ausdauer, Angst vor jeder Veränderung, Unbeständigkeit der Gefühle – ach, ein ganzes Register von schädlichen Eigenschaften –, und ich nehme dutzendmal im Jahr einen Anlauf, mit ihnen fertig zu werden. Das hier, Herr Kramer, diese gewagte Fahrt ins Neuland, ist solch ein Anlauf, und diesmal will ich nicht auf halben Weg stehen bleiben oder unbeherzt wieder umkehren.“
Curt, der von den Mädchen begehrt wird, Menschen unterhalten kann und selbstbewusst scheint, erweist sich im Laufe des Romans als spöttisch, gleichwohl er seine Entscheidung, für ein Jahr in einem Betrieb zu arbeiten, so zu begründen weiß: „Du arbeitest mit deinen Händen und siehst, was du schaffst; du gehörst dazu, als einer unter Tausenden, du schlägst dich mit all den Schwierigkeiten rum, von denen du bis jetzt bloß in der Zeitung gelesen hast – und wenn du weggehst, kannst du sagen: An der Halle da habe ich mitgebaut, und für das Dach dort habe ich die Platten geschleppt […]“ Auch er kann sich von der Vergangenheit des Nationalsozialismus nicht lossagen; seinen Vater haben die Nazis ins Zuchthaus gesteckt, haben ihn gefoltert, geschlagen. Curt wird auch der einzige sein, der es wagt, die Koffer zu packen, abzuhauen aus dem Milieu des Betriebes, jedoch auf halber Strecke aussteigt und es sich anders überlegt – und einen Schimmer Hoffnung hegt, das Jahr zu überstehen.
Nikolaus, eher verschwiegen, scheu und ein wenig unbeholfen, träumt von einem Studium an der Kunsthochschule. Auch ihm hängt die Vergangenheit hinterher: Sein Vater war vor 1933 Sozialdemokrat, tritt nach dem Ende des Dritten Reiches in die SED ein. Der eher empfindsame angehende Maler geht in diesen Betrieb, weil seine Mutter darauf bestand, damit er nicht vergisst, wo seine Wurzeln sind – ein Jugendlicher zwischen eigenen Träumen und elterlichen Wünschen.
Nicht nur, dass die drei verschiedenen Charaktere unter sich Konflikte austragen müssen – beide fühlen sich natürlich zu Recha hingezogen, doch Recha kann sich nicht entscheiden zwischen dem etwas zu großspurigen Curt und dem ruhigen Nikolaus –, sondern sie müssen sich auch von Täuschungen verabschieden, sich mit der Wirklichkeit des Lebens in der Schwarzen Pumpe konfrontieren, auch mit den Mitarbeitern der Brigade und ihren Eigenarten. Die Arbeit dort ist nicht romantisch, das merken alle drei schnell; die Arbeit ist dreckig und ermüdend. Die Ankunft in die Alltäglichkeit eines Betriebes ist ernüchternd, doch sie finden sich langsam zurecht und sammeln Erfahrungen. Und über allem, über die Familien der drei und den Arbeitern im Betrieb, schwebt der Satz, den der Schriftsteller Franz Fühmann einst schrieb: „Meine Generation ist über Auschwitz zum Sozialismus gekommen.“
Am 9. März 1959 schreibt Brigitte Reimann in einem Brief an eine Freundin:„Wir werden also tatsächlich in die Schwarze Pumpe gehen. […] die Basis ist für einen Schriftsteller von heute wirklich unerlässlich, und seine Großbaustelle ist die beste Erziehungsanstalt. […] In der Schwarzen Pumpe kriegt man mehr Mut und Schwung als sonst wo – und die Geschichten liegen auf der Straße. […] Wir wollen Material sammeln und dann beweisen, dass man auch Betriebsromane schreiben kann, die nicht stinklangweilig oder verlogen sind, sondern so bunt und spannend wie ein Abenteuerroman.“ Brigitte Reimann hat mit „Ankunft im Alltag“ ein spannendes und abenteuerliches Buch über verlorene Illusionen dreier Abiturienten, über Arbeiter in einem Betrieb geschrieben. Ein Buch aus einem untergegangenen Land. Ein Buch aus vergangenen Zeiten.
Literaturangabe:
REIMANN, BRIGITTE: Ankunft im Alltag. Aufbau Verlag, Berlin 2010. 260 S., 9,95 €.
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