Von Kerstin Fritzsche
Als Daniela Krause und Christian Heinicke 2004 anfingen, auf ihrer Internet-Plattform www.km4042.de all das fotografisch wiederzugeben, was sich kurze Zeit später unter dem Begriff „Street Art“ subkulturell zusammenfassen ließ, ahnten die beiden Kunst-Diplomanden wohl noch nicht, dass sie den dokumentarischen Grundstein für eines der brisantesten Themen des neuen Jahrtausends liefern würden. Ihre Sammlung mit Bildern vornehmlich aus den Street-Art-Szenen in Berlin und Halle/Saale wurde, angereichert mit Interviews mit Street Artists und kurzen wissenschaftlichen Essays, kurze Zeit später auch als Diplomarbeit eingereicht und 2006 als Buch vom Berliner Archiv der Jugendkulturen veröffentlicht.
Seitdem ist Street Art mehrfach Gegenstand diverser studentischer Abschlussarbeiten geworden. Einzelne Künstler wie Gould, Nomad, Banksy, Tower, Boxi, Evol bzw. Street Artist-Kollektive wie „Fuck your crew“, „CBS“ oder „Klub7“ haben längst einen internationalen Bekanntheitsgrad erlangt und sind teilweise vom etablierten Kunstbetrieb vereinnahmt worden. Am bekanntesten und drastischsten dürfte der Fall des Londoners Banksy sein: Zum einen wurde ein Werk von ihm vor ein paar Jahren sorgfältig vom Putz gehauen, um es anschließend bei eBay zu versteigern. Zum anderen hat die Stadt London viele seiner Cut-outs und Stencils hinter Plexiglas gepackt, um so die natürliche Verwitterung zu verhindern, da inzwischen Banksy-Werke Bestandteil des Londoner Tourismusmarketings geworden sind. Banksy-Bilder haben nicht nur in privaten Foto-Blogs Hochkonjunktur, auch im kommerzialisierten Netzwerk Facebook werden sie als T-Shirt- oder Hoodie-Motive verkauft. Der Mann ist berühmt, aber keiner weiß, wer er wirklich ist, selbst nicht, nachdem sein Film „Exit through the gift shop“ auf der diesjährigen Berlinale vorgestellt wurde. Ein letzter Rest von „reclaiming the subculture“, während alles andere schon der Ausverkauf einer Subkultur ist, irgendwo zwischen Kunst und Kommerz? Ist das überhaupt Kunst oder nur Sachbeschädigung? Die Frage, wem der öffentliche Raum gehört, was die Wahrnehmung einer Stadt ausmacht und ob Kunst im öffentlichen Raum unter diesen Vorzeichen per se politisch ist, kann in diesem Zusammenhang nicht oft genug gestellt werden.
Genau dies tut jetzt der Nachfolge-Band des „KM4042“-Buches, „Street Art. Legenden der Straße“, ebenfalls vom Archiv des Jugendkulturen Verlags herausgebracht. In zehn Essays versuchen Studenten, Szene-Angehörige und etablierte Kunst-Wissenschaftler das Phänomen „Street Art“ in ihrem Verhältnis zu Stadt, Gesellschaft, Kunstbetrieb und Stadtbewohnern zu fassen. Und wie es sich für die Erschließung einer Subkultur gehört und der Arbeitsweise des Archivs der Jugendkulturen entspricht, gibt es auch etliche künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema durch die Protagonisten selbst bzw.man lässt diese auch zu Wort kommen.
Zunächst gibt es nach der Einführung zur Entstehung dieses Buches eine kunsthistorische Herleitung von Street Art: von der Höhlen- bzw. Wandmalerei über einzelne Kunstströmungen wie Dadaismus, die Situationisten oder Pop Art und Graffiti bis hin zu Parallelen bezüglich der politischen Dimension mit DDR-Propaganda-Wandgemälden oder dem Kunst-am-Bau-Programm der BRD in den 1950ern. Gleichzeitig leistet die Autorin Annika Lorenz dabei auch Begriffsdefinitionen von Street Art-Genres und -Techniken und stellt nebenbei interessante Verbindungen her. So wird erklärt, wie die Schablone als Deko-Mittel bereits in der Antike und in Ägypten und Asien eingesetzt und dann von den Kunstrichtungen Jugendstil und Art Déco vereinnahmt wurden, bevor die sogenannte Pochoir-Kunst als politische Protest-Kunst in Europa zunächst über Paris Einzug hielt und sich dabei langsam den öffentlichen Raum eroberte. In Paris spielte der Künstler „Blek le rat“ dabei die tragende Rolle, in Deutschland Thomas Baumgärtel, der seit 1986 seine Bananen an öffentliche Kunstinstitutionen sprüht – und damit anschaulich verdeutlicht, wie ein Symbol, angebracht durch einen relativ willkürlichen, illegalen Akt, als offizielles „Qualitätsmerkmal“ für den Kunstbetrieb übernommen wurde und inzwischen entsprechend vermarktet wird. Wegen solcher Wechselwirkungen kommt Lorenz in ihrem Essay aber auch zu dem Schluss, dass Street Art aufgrund der „Zitate, Verweise und Neuinterpretationen zu vorhergehenden Techniken, Methoden und Kunstbewegungen“ keine neue öffentliche Kunst- und Aktionsform ist, sondern lediglich der mediale Hype darum dessen Wahrnehmung verändert hat. Gerade weil Street Art so wenig greifbar ist (technisch, inhaltlich und durch die natürliche Verwitterung), sei sie so spannend und aufregend.
Leider wird anschließend an Lorenz' Beitrag dann nicht der Frage nachgegangen, warum sich die Wahrnehmung von Street Art gerade jetzt geändert hat und was das über die Gesellschaft aussagt, die sie produziert. Stattdessen versucht sich die Kulturwissenschaftlerin Heike Lüken an einer Verhältnisanalyse zwischen Street Art und etabliertem Kunstbetrieb. Dabei ist für sie der etablierte Kunstbetrieb alles, was in dem von Brian O'Doherty vor 15 Jahren definierten „White Cube“, dem durch weiße Wände autorisierten Ausstellungs- und Rezeptionsraum, stattfindet, gleichbedeutend mit dem etablierten Kunstbetrieb. Allein die Tatsache, dass Street Art eben in den Straßen stattfindet, ist schon eine Kritik an diesem Ausstellungskonzept. Dem gegenüber stehen die Street-Art-Ausstellungen „backjumps“ 2003, 2005 und 2007 in Berlin, bei denen, so Lüken, Szene-Protagonisten sich der gleichen Strukturen bedienten wie der Kunstmarkt. Für Lüken ist dabei die entscheidende Frage, ob das Ausstellen in Galerien die Wahrnehmung der Street Artists und auch den etablierten Kunstbetrieb ändert. Damit bleibt der gesellschaftliche Zusammenhang hier leider außen vor. Denn vor diesen Fragen stehen doch eigentlich jene: Ist der White Cube das einzige Ausstellungskonzept für moderne Kunst und sollte es das sein? Kann man Street Art überhaupt ausstellen, losgelöst von ihren Bezügen und Zitaten des natürlichen Umfelds im Stadtraum? Und ist nicht weniger die „fortschreitende Professionalisierung der Akteure“ das Problem, als dass der Kunstbetrieb Erfolge eben nur mit Besucher- und Verkaufszahlen messen kann? Lüken hat keine eindeutige Antwort auf ihre selbst aufgeworfenen Fragen als diese banale, dass die vielen Beiträge von Street Artists in namhaften Galerien und bei Biennalen das gestiegene Interesse des Kunstmarkts an dieser Ausdrucksform verdeutlichen und flüchtet sich in ein unwissenschaftliches, persönliches Fazit, indem sie den Graffiti-Künstler „Ägähn“ zitiert: „Für mich ist alleine die Aktion relevant.“ Warum ein „Banksy“-Bild bei Sotheby's plötzlich 150.000 Euro bringt, kann dies nicht erklären. Schade, dass hier Kunstkritiker und Galeristen selbst nicht befragt wurden.
Auch die Überlegungen von Ilaria Hoppe zum Verhältnis von Architektur und Urban Art scheinen etwas kurz gegriffen. Hier wird vor allem der Beitrag von Street Art als Teil von Kommunikation und Teilhabe im Stadtraum diskutiert, um diesen etwa zu erweitern oder zu öffnen, und welche Bezugspunkte und Netzwerke der Rezeption sich daraus ergeben. Hoppe stellt die These auf, dass Urban Art dort die Architektur der Städte in Frage stellt, wo sie sich selbst zur monumentalen Kunst gemacht bzw. einen Kunstanspruch erhoben hat. Dies ist jedoch der Deutungshoheit von Kunst immanent. Dass ein Viertel dann „nicht bloß als öffentliche Sphäre erfahrbar gemacht wird, sondern ein gemeinsam geteilter und gestalteter Raum“, ist ein schwaches Fazit. Was ist mit den Strukturen, die eine Stadt per se durch ihre Architektur vorgibt und die unbewusst auch bis in die Beziehungsstrukturen der Menschen wirken, die in ihr leben?
Dem Phänomen Stadtraum als Ordnungssystem für soziale Ordnung und „Common Sense“ geht zwar etwas später Anja Schwanhäußer in ihrem Beitrag „Die Stadt als permanentes Happening“ nach, und Marcus Ryll versucht sich an einer Einordnung von Urban Art im Globalisierungsprozess. Wenn es jedoch um das Verhältnis von Street Art zu Architektur geht, betrifft das genauso den Stadtraum. Dem hätte eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Urban Art“ vorausgehen müssen: Ist das nicht der bessere und richtigere Begriff? Hat postmoderne Architektur eine (gesellschaftliche) Ordnungsfunktion? Welche Stadtkonzeptionen sind eigentlich noch sinnvoll im Zeitalter wuchernder Städte? Und welche Architekturkonzepte entsprechen dem am ehesten und nehmen darüber hinaus vielleicht auch noch Elemente moderner (Aktions-)Kunst auf?
Es wäre hier ein Leichtes gewesen, soziale Funktionen von Architektur (Le Corbusier) und soziale Funktionen von Kunst (Beuys' Theorie der „sozialen Skulptur“) zusammenzudenken und im Verhältnis zu Urban Art weiterzuschreiben. Auch wäre für eine Aussage über die gesellschaftliche Perspektive (Ansätze gibt’s nach Schwanhäußer schon bei Lefèbvre und Bourdieu) ein Blick auf die Raumsoziologie von Nutzen gewesen, wenn Raumtheorie schon als einer der Forschungsschwerpunkte der Autorin genannt wird. Hier ist vor allem das Forschungswerk der Darmstädter Soziologin Martina Löw zu nennen. Löw hat den Begriff der „Eigenlogik der Städte“ entwickelt, der besagt, dass Städte eine eigene Logik wie eine Grammatik haben, die nur in dieser spezifischen Stadt funktioniert und auf die sich die Bewohner in ihrem Handeln immer wieder beziehen, da sie von diesen Strukturen geprägt sind. So würde nach Löw zur Eigenlogik des Berliner Bezirks Friedrichshain die Subkultur des Kiezes um den Boxhagener Platz gehören, wo ein wichtiger Teil der Kommunikation im öffentlichen Raum sich um die Kunst von „Lindas Ex“ konzentriert, sowohl durch Stencils, Plakate und Cut-outs des Künstlers selbst, als auch durch das Reden im Kiez über diese Aktionen bis hin zu der Idee, in Do-it-yourself-Manier ein Buch darüber zu machen und es in den Kiezläden zu verkaufen.
Wirklich erfrischend ist an „Legenden zur Straße“ die Mischung aus wissenschaftlichen und künstlerischen Beiträgen. Eben ging es noch darum, wie subversiv Street Art wirklich ist, da erzählt „Lindas Ex“ in Rollenprosa das gleichsam spannende und banale Leben eines Posters. Zwischen zwei Essays steht Robert Behrendts Kurzgeschichte vom Unartigsein im Stadtraum. Heike Derwanz schickt immer wieder Postkarten aus den Großstädten dieser Welt, auf denen sie von ihrer Suche nach Street Art und deren Machern berichtet. „Nomad“ hat einen Traum, und „Bronco“ hat ein wunderbares, Reclam taugliches Musical in vier Szenen geschrieben. Und natürlich gibt es zahlreiche Fotos und Dokumentationen der Kunst selbst.
„Legenden zur Straße“ ist ein wichtiger und intelligenter Beitrag zur Debatte über Street Art. Und klar – die Bezüge, Hintergründe und Ausprägungen sind vielfältig und von einem Sammelband alleine nicht zu fassen. In einem Punkt wird das Buch seinem eigenen Anspruch sehr gerecht: eine andere Sicht auf Street Art zu vermitteln und anzuregen, dadurch auch die eigene Stadt, den eigenen Lebensraum, einmal mit anderen Augen zu sehen. In dem Punkt aber, dass die Autoren entlarven wollen, warum Street Art so ein medialer Hype ist, werden sie dem eigenen Anspruch nicht gerecht. Letztendlich können sie dieses Phänomen nicht entkräften, und in fast allen Texten mangelt es an genauen Definitionen und Transferleistungen, um andere Thesen aufzustellen oder die eigene Position zu untermauern. Es bleibt beispielsweise unklar, ob eine Theorie wie die der globalisierten Städte des Geografen Fred Scholz auf alle deutschen Städte übertragen werden kann und wie sich die Ökonomisierung von lokalen Ressourcen und Leistungen auf die Kunst auswirkt.
Jenseits aller wissenschaftlichen Analysen und Politisierungen sollte man es, zumindest wenn man Großstadtmensch ist, vielleicht einfach mit „Boxi“ halten: „An irgendeinem Punkt begreifst du, dass du die ganze Zeit inmitten einer Flut von Bildern aufgewachsen bist, die lediglich erschaffen wurde, um dich dazu zu bringen, etwas zu wollen. So als ob dein Leben ohne diese Begierden unzureichend wäre.“ Also Leben in die Hand genommen und egal, ob mit Schablone, Kreide, Pinsel, Edding, Sprühdose oder Fotoapparat: Raus auf die Straße!
Literaturangaben:
KLITZKE, KATRIN; SCHMIDT, CHRISTIAN (Hg.): Street Art. Legenden zur Straße. Archiv der Jugendkulturen KG, Berlin 2009. 225 S., 28 €.
siehe auch:
KRAUSE, DANIELA; HEINICKE, CHRISTIAN (Hg.): Street Art. Die Stadt als Spielplatz. Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin 2006.
REINICKE, JULIA: Street-Art. Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz. Transcript Verlag, Bielefeld 2007.
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