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„Divisadero“

Der neue Roman von Michael Ondaatje

© Die Berliner Literaturkritik, 20.03.09

 

MÜNCHEN (BLK) – Im März 2009 ist im Deutschen Taschenbuch Verlag der Roman „Divisadero“ von Michael Ondaatje erschienen.

Klappentext: Am Anfang sind sie immer zu dritt: Anna, deren Mutter bei der Geburt gestorben ist, Claire, auch sie mutterlos, die Annas Vater aus der Klinik mit auf die Farm und in seine Obhut genommen hat, und Cooper, der, versteckt unter den Fußbodenbrettern seines Elternhauses, einst hatte mit ansehen müssen, wie seine gesamte Familie ermordet wurde und den der Vater wie einen ungeliebten Sohn in der Nähe des Farmhauses leben lässt. Für Anna ist ihre Mutter, Lydia Mendes, nur ein Gerücht, „ein Gespenst, das unser Vater nur selten erwähnte“. Cooper kannte sie, hätte von ihr erzählen können. Aber Cooper ist ein schweigsamer Mensch. Waisen sind sie allesamt, Waisen, die aufwachsen wie Geschwister, bis Cooper, inzwischen zwanzig, „sich nach etwas so Fundamentalem wie einem gemeinsamen Lachen oder einer Berührung“ verzehrt, und Anna sich in ihn verliebt. Als der Vater die beiden ertappt, schlägt er den Ziehsohn halb tot. Und die Familie zerbricht so plötzlich wie sie Jahrzehnte zuvor zusammengefunden hat.

Michael Ondaatje, holländisch-tamilisch-singhalesischerHerkunft, wurde am 10. September 1943 in Sri Lanka geboren. Nach der Schulausbildung in England übersiedelte er 1962 nach Kanada, wo er bis heute lebt. Internationalen Ruhm erlangte er mit seinem Roman „Der englische Patient“, für den er 1992 den Booker Prize erhielt und dessen Verfilmung mit neun Oscars ausgezeichnet wurde. „Divisadero“ gilt als der neue Höhepunkt in Ondaatjes literarischem Schaffen. (jud)

Leseprobe:

© dtv ©

ERSTER TEIL

Anna, Claire und Coop

Die Waise

Neben der Hütte unseres Großvaters, oben auf dem Berggrat, gegenüber einem Abhang mit Roßkastanien, sitzt Claire auf ihrem Pferd, in eine dicke Decke gehüllt. Sie hat im Freien übernachtet, hat Feuer gemacht im Kamin der kleinen Hütte, die unser Großvater vor einer Generation erbaute und in der er lebte wie ein Einsiedler oder wie ein Tier, als er in dieses Land kam. Er war ein selbstgenügsamer Hagestolz, dem zuletzt alles Land gehörte, so weit der Blick reichte. Mit Vierzig heiratete er ohne großen Enthusiasmus und bekam einen Sohn, dem er diese Farm an der Petaluma Road hinterließ.

Claire reitet langsam den Berggrat zwischen den zwei Tälern voller Morgennebel entlang. Zu ihrer Linken liegt die Küste, zu ihrer Rechten der Weg nach Sacramento und zu den Städten im Flußdelta wie Rio Vista mit seinen vom Goldrausch übriggebliebenen Bewohnern.

Sie hält das Pferd dazu an, durch das Weiß und an enggedrängten Bäumen entlang hinunterzugehen. Seit zwanzig Minuten riecht sie Rauch, und bevor sie Glen Ellen erreicht, sieht sie, daß die Bar der Ortschaft in Flammen steht – der örtliche Brandstifter hat früh zugeschlagen, solange mit Kundschaft noch nicht zu rechnen ist. Ohne abzusteigen, sieht sie aus der Ferne zu. Territorial, das Pferd, läßt sich fast nie zum zweitenmal besteigen, höchstens einmal am Tag kann man es überrumpeln. Reiterin und Pferd vertrauen einander nicht so recht, obwohl dieses Pferd der engste Verbündete meiner Schwester Claire ist. Sie greift zu unfairen Mitteln, um es am Aufbäumen und Ausschlagen zu hindern; sie schleppt Plastiktüten voller Wasser an, das sie ihm über den Hals gießt, so daß das Tier die Flüssigkeit für sein Blut hält und sich einen Augenblick lang ruhig verhält. Zu Pferde ist Claire ihr Hinken nicht anzusehen, sondern sie gebietet über das Universum, eine Kentaurin. Eines Tages wird sie einen Kentaur finden und ihn heiraten.

Es dauert eine Stunde, bis das Feuer erlischt. Die Glen Ellen Bar war schon immer Schauplatz von Schlägereien; auch jetzt sieht Claire vereinzelt Handgreiflichkeiten, vielleicht zu Ehren der Lokalität. Sie leitet ihr Pferd an dem glatten roten Stamm eines Erdbeerbaums entlang und ißt die Früchte, dann reitet sie an dem Feuer vorbei in die Stadt. Als sie vorbeikommt, hört sie die letzten Balken unter Donnergrollen einstürzen und lenkt ihr Pferd weg.

Auf dem Rückweg kommt sie an Weinbergen vorbei, in denen urzeitlich wirkende Heißluftgebläse warme Luft zirkulieren lassen, um die Reben vor Frost zu schützen. Zehn Jahre früher, in ihrer Kindheit, hatten Eimer mit Brennstoff die ganze Nacht gequalmt, um die Luft zu erwärmen.

Meistens kommen wir morgens in die dunkle Küche und schneiden uns schweigend dicke Scheiben Käse ab. Mein Vater trinkt eine Tasse Rotwein. Dann gehen wir zum Stall. Coop ist schon dort, recht das schmutzige Stroh zusammen, und dann melken wir die Kühe, den Kopf an ihre Flanken gelehnt. Ein Vater, seine zwei elfjährigen Töchter und der Knecht Coop, ein paar Jahre älter als wir. Niemand hat bisher gesprochen, man hört nur die Geräusche der Eimer und der Gatter, die geöffnet werden.

Damals sprach Coop selten, in einem leise gemurmelten Monolog, als wäre die Sprache ihm nicht vertraut. Letztlich versicherte er sich dessen, was er sah – des Lichts im Stall, der Stelle, wo er über den Zaun klettern konnte, welches Huhn er von den anderen wegscheuchen, einfangen und unter den Arm stecken sollte. Claire und ich hörten zu, wenn sich die Gelegenheit bot. Damals war Coop ein offenherziger Mensch. Wir begriffen, daß seine Schweigsamkeit nicht aus einem Wunsch nach Alleinsein herrührte, sondern aus Unsicherheit gegenüber den Wörtern. Gewandt war er in der Welt materieller Dinge, in der er uns beschützte. Aber in der Welt der Sprache war er unser Schüler.

Damals waren wir Schwestern weitgehend uns selbst überlassen. Unser Vater hatte uns ohne Hilfe aufgezogen und hatte zuviel zu tun, um Verwicklungen zu erahnen. Er war zufrieden, wenn wir unseren Teil der Arbeit auf dem Hof verrichteten, und fuhr schnell aus der Haut, wenn er uns nicht finden konnte. Seit dem Tod unserer Mutter war Coop derjenige, der uns zuhörte, wenn wir jammerten oder schimpften, und er war immer für uns da, wenn wir ihn brauchten. Unser Vater tat so, als wäre Coop gar nicht vorhanden. Er wollte einen Farmer aus ihm machen, weiter nichts. Doch Coop las Bücher über Goldsucher und Goldminen im Nordosten Kaliforniens, über die Leute, die am linken Ufer einer Flußbiegung alles gewagt und ein Vermögen gefunden hatten. Im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert war er zwar hundert Jahre zu spät dran, aber er wußte, daß es noch immer Goldvorkommen gab, in Flüssen, unter dem Gras der Prärie und in den Sierras mit ihren Nadelwäldern.

Auf einem Regalbrett in der Garderobe unserer Farm stieß ich auf ein Buch oder eher eine Broschüre mit schmalem weißen Rücken: Gespräche mit Kaliforniern: Frauen von früher und von heute. Da die meisten dieser Frauen nicht schreiben konnten, hatten Archivare aus Berkeley mit Tonbandgeräten diese Lebensläufe und das Spezifische der Vergangenheit aufgezeichnet. Die Aufnahmen reichten vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bis in unsere Tage, von „Doña Eulalias Bericht“ bis zu „Lydia Mendes’ Bericht“. Lydia Mendes war unsere Mutter. Hier entdeckten wir die Frau, die in der Woche gestorben war, in der Claire und ich geboren waren. Nur Coop, der seit seiner Kindheit auf der Farm arbeitete, hatte sie gekannt. Für Claire und mich war sie ein Gerücht, ein Gespenst, das unser Vater nur selten erwähnte, jemand, der für ein paar Absätze in diesem Buch interviewt worden war, begleitet von einem unscharfen Schwarzweißfoto.

Alle Menschen in diesem Buch kennzeichnete eine Demut, das Gefühl, daß die Geschichte um sie herum war, nicht in ihnen. „Wir stammen aus der Central Plain im Nordosten von Los Angeles, wo mein Vater in den Asphaltsteinbrüchen arbeitete. Ich habe mit Achtzehn geheiratet, und bei unserer Hochzeit haben wir immer wieder zu La Voquilla und El Grullo getanzt – mein Mann sagte, die Geiger und Gitarristen seien die besten weit und breit gewesen. Neben dem großen Felsblock auf der Weide war das Büffet auf Böcken angerichtet. Der Vater meines Mannes war dreißig Jahre zuvor in San Francisco gelandet, und man hat mir erzählt, daß er am selben Tag mit dem Dampfer nach Petaluma fuhr und dann dieses Haus baute. Als ich ankam, gab es an die tausend Legehennen. Aber mein Mann wollte keine fremden Arbeiter auf unserer Farm, und deshalb hielten wir nur Milchvieh und bauten Getreide an – die Hühner wurden von Füchsen geholt, und es war zuviel Arbeit, ständig auf sie aufzupassen. In den Bergen gab es auch Luchse und Kojoten, Klapperschlangen zwischen den Mammutbäumen, und einmal habe ich einen Puma gesehen. Aber die teuflischste Plage waren die Disteln. Wir taten alles, um sie auszurotten, aber die Nachbarn machten es nicht richtig, und ihr Distelsamen flog auf unser Land.

Etwas weiter an der Petaluma Road wohnte ein Mann mit einer Herde von hundert Ziegen, ein freundlicher Mann. Manchmal haben seine Ziegen unsere Wiesen und Felder abgeweidet – seine Ziegen waren eine besondere kleine Rasse, die Disteln fressen und verdauen kann, ihr Magen läßt von den Samen einfach nichts übrig. Eine Kuh kann das nicht. Eine Kuh frißt Disteln, und die Samen kommen einfach wieder raus. Wenn man Disteln verabscheute, mußte man diesen Mann lieben … Auf der Farm neben unserer kam es zu einer schrecklichen Gewalttat. Die Coopers wurden von einem Tagelöhner umgebracht, mit einem Holzscheit totgeschlagen. Zuerst wußte niemand, wer so etwas getan haben konnte, doch ihr Sohn hatte sich tagelang in dem Zwischenraum unter dem Fußboden versteckt. Er war vier Jahre alt, und als er her auskroch, sagte er, wer es getan hatte. Wir nahmen den Jungen auf, er wohnte und arbeitete bei uns.“

Das ist das ganze Bild unserer Mutter, das wir besitzen. Was sie sonst gedacht und erwogen haben mag, verharrt in einer unwiderruflichen Ferne. Sie hatte fast nur von Geschehnissen gesprochen, die ihr widerfuhren, und so wußten wir nur von ihrer Zuneigung zu dem Ziegenhirten, ihrer kurzen Freude am Tanzen, den Einzelheiten der Bluttat auf der Nachbarsfarm, die Coop zu uns gebracht hatte. Man erfährt nichts über ihre Vergnügungen oder ihre Intelligenz oder ihr Mitgefühl – Dinge, die für unseren Vater Leitsterne gewesen sein müssen. Nur diese zwei Seiten über eine „Kalifornierin“, die mit dreiundzwanzig Jahren im Kindbett sterben sollte.

Was sich folglich nicht in dem schmalenweißen Buch findet, ist das seltsame Verhalten unseres Vaters indem von ihrem Tod ausgelösten Chaos, als er inoffiziell ein zweites Kind im selben Krankenhaus adoptierte, die Tochter einer Mutter, die ebenfalls im Kindbett gestorben war, und beide Kinder mit nach Hause nahm und das angenommene Kind, Claire, aufzog, als wäre es sein eigenes. So kam es, daß es zwei Töchter gab, Anna und Claire, in derselben Woche geboren. Alle hielten beide für seine Töchter. Das war, wozu Lydia Mendes’ Tod unseren Vater anstiftete. Die tote Mutter des zweiten Mädchens hatte keine Verwandten, war vielleicht ganz allein gewesen; das mochte ihn ermutigt haben. Es war ein kleines Landkrankenhaus am Stadtrand von Santa Rosa, und um es unverblümt zu sagen, schuldeten sie ihm eine Frau, waren sie ihm etwas schuldig.

© dtv ©

Literaturangaben:
ONDAATJE, MICHAEL: Divisadero. Roman. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009. 288 S., 9,90 €.

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