Von Susanna Gilbert-Sättele
FRANKFURT (dpa) – In ihrem Debüt „Phönix Tochter“ schreibt sich Isabelle Müller ihre Vergangenheit von der Seele. Die 1964 im französischen Tours geborene Autorin hat als Tochter einer Vietnamesin, die ihrem grausamen Schicksal durch Heirat mit einem Besatzungssoldaten in ein Leben in Frankreich entkommen war, viel mitgemacht. Aufgewachsen in der Unterschicht, erlebte sie, wie die Mutter als Asiatin verachtet wurde und mit ihren fünf Kindern ums tägliche Überleben kämpfte. Von ihrer unglücklichen Jugend und dem Jahre langen Missbrauch durch den Vater bis hin zu ihrer Befreiung und ihrem Umzug nach Deutschland erzählt die heute 45-Jährige in einer fast kindlichen Diktion, die das Grauen, das Müller erlebthaben muss, umso schrecklicher macht.
Ihren Vater schildert sie als Schwächling, Versager, tyrannisch, grausam, feige und ein Muttersöhnchen, die Mutter hingegen als stark, mit einem unbändigen Überlebenswillen, der Diskriminierung durch die „Einheimischen“ trotzend und dem Lebensmotto: „Eine kluge Frau vermag auch eine Festung zu erstürmen“. Diese Mutter liebt und verehrt die Autorin ihr Leben lang, obwohl diese das Kind nicht vor dem schlimmsten beschützt hat oder beschützen konnte, der Vergewaltigung durch den eigenen Vater, als es gerade einmal acht Jahre alt war.
Die weiteren Lebensumstände sind abenteuerlich: Müller lebt als Zwölfjährige bei ihrer älteren Schwester in Deutschland, muss dann nach Frankreich zurückkehren und ist dort wieder den sexuellen Übergriffen ihres Vaters ausgesetzt. Sie hasst sich und ihren Peiniger, verletzt sich selbst, versucht sich umzubringen. Erst mit 17 Jahren kann sie sich ihrem Vater entgegenstellen, nachdem sie Karate trainiert hat. Sie studiert, heiratet, durchleidet die Krebserkrankung ihres Kindes und dann die ihres Mannes – und schreibt dieses Buch.
Eindringlich erzählt Müller davon, wie sie sich schuldig fühlte. Aus einem Gefühl heraus, die Mutter schützen zu wollen, die doch selbst so viel Schreckliches erlebt hat, behält sie ihr Geheimnis für sich. Sie sucht sich kleine Nischen, flüchtet in Träume, glaubt an Geister und Engel und überlebt. Mutter Loan, mit der sich die Autorin so stark identifiziert, bringt ihr bei, dass ihre Herkunft aus zwei Kulturen ein Privileg ist und kein Makel. Loan nimmt in asiatischer Gelassenheit den rohen Schwächling, der ihr Mann ist, hin, arrangiert sich auf ihre ganz eigene Art mit dessen Affären und rettet die Familie vor dem Verhungern, indem sie ein vietnamesisches Lokal eröffnet. Loan heißt „Phönix“, und wie dieser steigen Mutter und Tochter immer wieder aus der Asche auf.
Isabelle Müller überlebt den Missbrauch und den Dreck ihrer Kindheit: die Sickergrube vor dem Haus, die Kleider von der Mülldeponie, die Armut, Kälte und Krankheiten, weil das Geld für Heizstoff und Arzt fehlt. Nur kurz ahnt man, welche unauslöschbaren Spuren dies alles hinterlassen hat, als sie schildert, dass sie - Perfektionistin und Workoholic, die sie ist – mit 30 alle Anzeichen eines Burn-out-Syndroms hatte. Sie macht ihrer Mutter nie Vorwürfe, fragt nie nach, ob diese nicht von dem Missbrauch etwas bemerkt haben müsste. Vielmehr reist sie mit ihr – deren größten Wunsch erfüllend – in den 90er Jahren nach Vietnam, den Wurzeln der Mutter und ihren eigenen nachspürend.
Literaturangabe:
Müller, Isabelle: Phönix Tochter. Verlag Krüger, Frankfurt 2009. 281 S., 17,95 €.