Gesamtkunstwerk Expressionismus, Mathildenhöhe Darmstadt, 24.10.2010-13.2.2011. Katalog, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010. 512 S., gebunden, 58 €.
Von Roland H. Wiegenstein
Es ist noch gar nicht lange her, dass Ausstellungen expressionistischer Werke im europäischen Ausland (wenn sie denn, selten genug, stattfanden) bei den Besuchern gelindes Kopfschütteln hervorriefen, obwohl diese Besucher doch an die Moderne, an Picasso oder Cézanne, Matisse oder De Chirico längst gewohnt waren. Was da an seltsam verquälten, oft dreieckig spitzigen Figuren an den Wänden hing, verblüffte. Der internationale Kunstmarkt hat solche Verwunderung inzwischen abgeschliffen, Bilder von Kirchner oder den Malern des „Blauen Reiters“ erzielen hohe Preise und die künstlerische Bewegung, die in Deutschland zwischen 1905 und 1925 die Diskussionen bestimmte und die Salonkunst der wilhelminischen Ära weggepustet hatte, galt hierzulande nach dem Zweiten Weltkrieg gar als konsistenter Beitrag zur ersten Moderne, als Gegengift gegen die martialische oder biedermeierliche „Kunst“, die in den braunen wie roten Diktaturen das Sagen hatte. (Und nebenbei auch als ein Wehr gegen die Welle der gegenstandslosen Kunst, die um Liebhaber kämpfen musste.) Hätte sich in den frühen dreißiger Jahren Goebbels gegen Rosenberg (und den Postkarten-Maler Hitler) durchsetzen können, der Expressionismus wäre als „deutsche“ Kunst schlechthin anerkannt worden, obwohl doch nur (sehr) wenige Künstler den Trompeten des Nationalen oder den Schalmeien der Sowjetkunst gefolgt waren.
Dabei hat diese Kunst im europäischen Kontext nur eine so geringe Rolle gespielt, dass sie etwa in Philipp Bloms gescheiter Übersicht über den schwankenden Kontinent 1900-1914 nicht einmal vorkommt. Sie blieb ein deutsches Phänomen, mit ein paar Ausläufern nach Osteuropa, auch wenn Wolfgang Pehnt in einem eigenen Katalogbeitrag ihre europäische Dimension behauptet. Klar, dass Frank Lloyd Wright sich bei einem Deutschlandbesuch auch für die kühnen Entwürfe (und meist nicht gebauten) etwa der „Gläsernen Kette“ interessierte, doch jene düsteren Holzschnitte der Kirchner, Gramatté, Felixmüller, Dix blieben auch ihm fremd. Dabei hatten die Künstler in Dresden, Berlin und München durchaus die Moderne in Paris aufgesogen. Aber sie gingen dennoch andere Wege. Die Idyllen eines freien Lebens, das sich an den Moritzburger Teichen in seliger Nacktheit in den Bildern von Kirchner, Otto Müller, Schmidt-Rotluff und anderen Mitgliedern der “Brücke“ abgespielt hatte, blieben ohnedies Episode. „Dem Bürger fliegt der spitze Hut vom Kopf“ hatte Jacob van Hoddis ein Gedicht von 1911 begonnen, der Bürgerschreck war deutlich genug, wie es die Werke von Ludwig Meidner waren, der den Ersten Weltkrieg als Epochenbruch vorausgeahnt hatte. Zahlreiche der wichtigen Künstler der Zeit waren ins Feld gezogen (oft freiwillig) und gefallen: Macke, Seehaus, Franz Marc und andere. Was uns heute in ihren Bildern und Grafiken sofort anspringt, ist ein immer wieder deutliches Gefühl der Angst, des Schreckens, unbehauster Existenz, das sich während der Kriegsjahre noch verstärkte und das Schlachten überdauerte. Auch wenn sich die Künstler (die den Krieg überlebt hatten!), sofort in zahlreichen Gruppen zusammenschlossen, energische Manifeste für den Frieden verfassten und dabei nun auch eine Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse forderten, so sind diese Aufrufe, Zeitungen, Plakate, Ausstellungen ebenso Zeichen einer gleichsam metaphysischen Sehnsucht nach einem diffusen „Wir“-Gefühl wie ein Reflex der wirtschaftlichen Situation, in der den Künstlern nicht einmal Brosamen vom Tisch derer gegönnt wurden, denen es besser ging, zumal auch diese durch die ökonomischen Verwerfungen, etwa die Inflation, andere Sorgen hatten.
Man kann dies alles bis zum Februar 2011 noch in einer großen Ausstellung auf der Mathildenhöhe in Darmstadt sehen und in dem kiloschweren Katalog zu dieser Schau unter dem Titel „Gesamtkunstwerk Expressionismus“, der in achtzehn Kapiteln der Ordnung der Ausstellung folgt. Deren Kurator Ralf Beil will alles zusammentragen, was es zum Thema gibt, unter dem von ihm propagierten Rubrum „Gesamtkunstwerk“, denn „der Gesamtkunstwerksgedanke vereint alle Gattungen und Gruppierungen in jener Zeit – die Akteure der Brücke und des Blauen Reiters verfolgen ihn ebenso wie die Mitglieder des Sturm-Kreises, der Gläsernen Kette und des Arbeiterrats für Kunst.“ Was zu beweisen wäre! Im strengen Sinn gilt die Parole ja allenfalls für die Filme, wo etwa in denen von Robert Wiene bis Fritz Lang (am Ende der Epoche) alle Künste mitmachten, um dem melodramatischen Kintopp der kleinen Leute etwas Künstlerisches entgegenzusetzen. Doch auch die kinematograpischen Meisterwerke der Zeit, der „Caligari“, der „Golem“, der „Dr. Mabuse“ operieren mit dem Schrecken, widerspiegeln das Klima der Angst, war doch die ökonomische Situation in der Tat zum Fürchten. Die utopischen Visionen der Baumeister, die in Hochhäusern und Glashäusern eine bessere Zukunft heraufbeschworen (für die es kaum je Investoren gab) oder in Siedlungen den Menschen eine bessere Existenz versprachen (die wurden häufig gebaut), sie waren ein Antidot gegen die nach wie vor düsteren Bilder der Maler und gegen jene Ausschweifungen, die das damals noch nicht verbotene Kokain verhieß. Der Expressionismus der Zeit vor 1914 unterschied sich von dem nach 1918 nur graduell, es waren ja auch dieselben Künstler geblieben, die Otto Dix und George Grosz zum Beispiel, nur dass sie sich jetzt häufig politisierten, ihre Publikationen etwa “Revolution“ hießen und nach Osten schielten. Der Kraft ihrer Erfindungen tat das wenig Abbruch. Doch um 1925 verlief sich alles, die Vereine und Bünde zerbrachen und die Künstler gingen getrennte Wege – nur auf der Bühne und im Film, die auf die gemeinsame Arbeit vieler angewiesen waren, sind die nächsten Jahre noch spannend – auch wenn die Protagonisten nun den Anschluss suchten an die internationale Moderne. Der „Sonderweg“ Expressionismus verrann in anderen Straßen.
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Die Ausstellung und der Katalog mit zahlreichen, zum Teil sehr kundigen Beiträgen machen das Phänomen Expressionismus besser begreiflich, auch wenn die These vom Gesamtkunstwerk nur in einem weiten Sinn gelten mag. Man erfährt vieles, was man nicht gewusst hat und die Bilder tun ein Übriges. Hingehen, schauen und – lesen.