HAMBURG (BLK) – Der Mare Verlag hat im August 2010 die Erinnerungen von Claretta Cerio unter dem Titel „Mein Capri“ herausgebracht.
Klappentext: Wer heute nach Capri reist, dem kann vieles von dem alten Zauber, der den legendären Ruf der Insel begründet hat, entgehen. Claretta Cerio aber hat jene Zeit selbst erlebt: Als Tochter eines Deutschen und einer Italienerin auf Sylt und Capri aufgewachsen, verbrachte sie ihre intensivsten Jahre auf der Insel im Tyrrhenischen Meer, wo sie 1953 den Schriftsteller Edwin Cerio heiratete und zahlreichen Künstlerpersönlichkeiten begegnete. Jetzt erzählt sie die Geschichte der Capreser Villen und ihrer Bewohner: Sie weiß, in welcher Gesellschaft Wladimir Iljitsch Uljanow in der Villa Rossa feierte, bevor er als Lenin bekannt wurde, weshalb Alfred Krupp sich von den Capresen verstanden fühlte und warum Brecht die Insel eine "verdammte blaue Limonade" nannte. Sie berichtet von der parabelhaften Feindschaft zwischen dem Küstenstädtchen Capri und dem Bergdorf Anacapri, von der Schrulligkeit der deutschen Pensionsgäste der 1930er Jahre und von Göttern und Naturgeistern, die der einsame Wanderer noch heute trifft, wenn er sich fern von allem Massentourismus auf die steilen Pfade des Monte Solaro wagt. Auf unwiderstehlich charmante Weise lässt Claretta Cerio den Glanz vergangener Zeiten lebendig werden. Zugleich zeichnet sie klarsichtig und mit feinem Humor ein differenziertes Bild der Insel jenseits aller Klischees, die uns von Postkarten und Schlagern bekannt sind, und bringt uns so ihr Capri nahe.
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Claretta Cerio wurde 1927 auf Capri als Tochter eines Deutschen und einer Italienerin geboren. Sie wuchs auf Sylt und Capri auf. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zog ihre früh verwitwete Mutter mit den vier Kindern ganz nach Capri zurück. Claretta Cerio studierte Philologie an der Universität Neapel und promovierte über Capri in der deutschen Literatur. 1953 heiratete sie den bekannten Schriftsteller Edwin Cerio. Claretta Cerio schrieb mehrere Romanen und Kriminalgeschichten und verfasste Texte für verschiedene Fotobücher über die Insel Capri. Die meisten Bücher entstanden in deutscher Sprache. Heute lebt sie in der Toskana.
Leseprobe:
©Mare Verlag©
Unser Ausland
Anacapri ist anders. Damit will ich sagen, dass sich das obere Städtchen der Insel, eben Anacapri, von dem unteren, nämlich Capri, unterscheidet. Das Eigenschaftswort „anders“ ist neutral, nicht beurteilend, und meine Familie, die an der Marina Piccola wohnte und so keiner der zwei Ortschaften angehörte, blieb von der eingefleischten Rivalität zwischen den beiden weitgehend unberührt. Zwar hoben auch wir die Andersartigkeit von Anacapri hervor, aber nur als sympathische Variante zu dem, was man von den Bewohnern des unteren Inselorts gewohnt war. Die Capresen jedoch verspotteten die angeblich bäurischen, unfeinen Anacapresen und nennen sie bis heute ciammurri, ein arabisches Schimpfwort, das auf die Einfälle der Sarazenen im Mittelalter zurückgeht und Sklave bedeutet.
Von der verbissenen Feindseligkeit der beiden Gemeinden, die lächerliche, groteske und in der Vergangenheit oft blutige Auswirkungen hatte und auch heute nicht bereinigt ist, erfährt man aus einer Fülle von geschichtlichen Schriften
und zeitgenössischen Chroniken. Doch unsere Familie vertrat nur positive Ansichten über Anacapri und pflegte mit seinen Einwohnern freundschaftliche Beziehungen. An erster Stelle war da das Axiom von der gesunden Luft des höher gelegenen Städtchens, mit der diejenige von Capri angeblich keinen Vergleich aufnehmen konnte. Unsere Mutter, hieß es, wäre als Kind bestimmt am Veitstanz gestorben, hätte man sie nicht rechtzeitig hinauf nach Anacapri gebracht, von wo sie, wundersam geheilt, als sei sie in Lourdes gewesen, zurückkam. Auch ich, obwohl nur an einer schlichten Grippe erkrankt, wurde auf ein paar Tage dorthin begleitet, und danach fand man, ich hätte mich fabelhaft erholt.
Genauso, wie man von der hervorragenden Luft in Anacapri überzeugt war, schwor man in unserer Familie auch auf die nicht zu überbietende Qualität der anacapresischen landwirtschaftlichen Produkte – eine Bewertung, die mir fundierter schien als die erste. Tatsächlich waren das Gemüse und das Obst von dort ein Genuss für alle Sinne: prall und saftig, in leuchtenden Farben, aromatisch duftend und köstlich.
Wir Geschwister hatten den Eindruck, dass Macolatina, die ein paarmal die Woche die Erzeugnisse ihrer Eltern in unserer Pension ablieferte, direkt vom Himmel hinabstieg. Das stimmte auch, denn sie kam barfuß – wie die meisten Einwohner damals liefen – von Anacapri zu uns, und zwar nicht über die Fahrstraße, sondern über den Passetiello hinunter. Dieser halsbrecherische, an der östlichen Bergwand des Monte Solaro senkrecht und konstant am Abgrund hinabführende Pfad ist von allen Wegen der Insel bestimmt der gefährlichste und atemberaubend schön mit seinen überraschend wechselnden, von Felsenklüften eingerahmten Aussichten. Macolatina balancierte den großen, flachen, mit Gemüse und Früchten beladenen Korb auf dem Kopf, ohne die Hände gebrauchen zu müssen, und so kam sie aus der Höhe, unbesorgt tänzelnd, die steinige, verwachsene, kaum erkennbare Wegspur hinunter bis zu unserem Haus am Meeresufer. Die Pensionsgäste fragten schaudernd, ob das Mädchen keine Angst hätte, abzustürzen, und sie ließ ihnen lachend in capresischem Dialekt ausrichten, sie sei schwindelfrei: „Tengo l’aria“, wortwörtlich übersetzt: Ich halte der Luft stand.
Während Macolatina wie Pomona, die altrömische Göttin der Früchte, leichtfüßig zu uns hinunterschwebte, mussten wir selbst uns auf den Weg hinauf zu dem anderen Menschen machen, der für uns in der Kindheit Anacapri verkörperte. Schon der Anlass, ihn aufzusuchen, versprach Unangenehmes, er war nämlich unser Zahnarzt und so absonderlich, dass er mir unvergesslich geblieben ist. Seit Langem mit unserer Familie befreundet – eine Freundschaft, die auf August Weber zurückging –, war er das zäheste Überbleibsel jener Russen, die 1906, als Revolutionäre verurteilt, dem Schriftsteller Maxim Gorki nach Capri ins Exil gefolgt waren.
In seinem schönen Buch Capri, Biographie einer Insel schreibt Humbert Kesel: „Im Jahre 1913 ging Gorki, nachdem zur Dreihundertjahrfeier des Hauses Romanow eine Amnestie erlassen wurde, nach Russland zurück. Die russische Kolonie löste sich so auf (…). Einen aus der damaligen Kolonie habe ich noch gekannt: Paul Wigdorcik. (…) Nach der Revolution von 1905 war er zum Tod verurteilt worden. Unter dem Galgen stehend, wurde er in letzter Minute begnadigt, d. h., die Todesstrafe wurde ihm erlassen. Seitdem, wenn er einem Patienten einen Zahn zog, machte er immer eine gequälte Geste, als würge ihn etwas oder als wolle er den Hals aus einer Schlinge ziehen. Nach dem Ersten Weltkrieg reiste er nach Russland, um seine früheren Kampfgenossen zu besuchen. Er kam ziemlich in sich gekehrt zurück und sprach nie mehr davon. Vielleicht war aus dem einst revolutionären Saulus ein Paulus geworden, der lieber der morbiden Bourgeoisie die nicht weniger morbiden Zähne zog, als sich wieder auf das zeitweise doch sehr gefährliche Parkett der Weltrevolution zu wagen.“
Während unserer Kindheit vor dem Krieg war Wigdorcik, der die Praxis in Neapel aufgegeben hatte, der ein zige Zahnarzt auf der Insel. Selbstverständlich konnten Termine bei ihm nicht telefonisch oder sonst wie verabredet werden – die wenigsten besaßen ein Telefon. Man machte sich auf gut Glück zu ihm auf und musste schon tüchtiges Zahnweh haben, um sich dazu zu entschließen. Genauso selbstverständlich war es, dass wir zu Fuß hingingen, und vom Ufer der Marina Piccola bis Anacapri dauerte der Aufstieg über die vielen Windungen hinauf mindestens anderthalb Stunden – aber auf dem Heimweg nur eine, weil man beschwingt bergab rannte, nachdem man die missliche Sitzung glücklich hinter sich gebracht hatte.
Die Wohnung von Dr. Wigdorcik war dumpf, dunkel und muffig. Man hätte sie in einer tristen Moskauer Straße vermutet, nicht im sonnenhellen Anacapri, und er selbst in seiner lichtscheuen, abgehärmten Blässe schien direkt der großen russischen Literatur entstiegen als eine der toten Seelen oder als der mit sich hadernde Unglückliche aus Schuld und Sühne.
Er sprach zögernd, kaum hörbar, und unsere ängstlich auf eine Diagnose wartende Mutter wusste nie, ob sich darin seine Schwermut oder ein negativer Befund über den Zustand unserer Zähne ausdrückte. Zu seinen unerfindlichen Eigenheiten gehörte, dass er nur die oberen Zähne ärztlich versorgte. Der Behandlungsstuhl, ein klobiges Gebilde, war einem elektrischen Stuhl aus Sing Sing täuschend ähnlich. Er stand mitten im von vielen schweren Möbeln verstellten Wohnzimmer, und Spülbecken, Bohrer, überhaupt sein ganzes Instrumentarium gingen bestimmt auf die Frühzeit der Zahnarztkunde zurück.
Die bedrückende Atmosphäre um diesen Menschen und das Befremden, das seine ungewöhnliche Erscheinung in uns hervorrief, ließen uns für jede anstehende Behandlung das Schlimmste befürchten. Aber unsere Mutter verteidigte ihn: „Er hat Schweres durchgemacht.“
Heute verstehe ich, dass Dr. Paul Wigdorcik mit seinen utopischen Idealen Schiff bruch erlitten hatte und rettungslos mit ihnen untergegangen war. Danach war sein Leben nur noch eine Scheinexistenz gewesen.
©Mare Verlag©
Literaturangabe:
CERIO, CLARETTA: Mein Capri. Mare Verlag, Hamburg 2010. 192 S., 18 €.
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