Von Roland H. Wiegenstein
Gibt es das? Einen eminenten Schriftsteller, der im Nachbarland, wo man die selbe Sprache spricht (na ja, fast die selbe), nur ein paar besonders literarisch oder politisch kenntnisreichen Zeitgenossen geläufig ist, obwohl er doch eine bedeutende Zeitschrift herausgibt („Literatur und Kritik“) und der immer wieder auch in den wichtigen Blättern des größeren Nachbarlandes publiziert, so jüngst wieder in der ZEIT, wo er über die Roma schrieb und siebzehn Bücher von ihm mindestens zum Teil „lieferbar“ sind?
Es gibt ihn: Karl-Markus Gauß. Freilich sind alle Bücher des 56-Jährigen in österreichischen Verlagen erschienen; und er wohnt noch in seiner Heimatstadt Salzburg. Seine Freunde haben gleichzeitig mit Gauß’ gerade erschienenem neuen Buch „Im Wald der Metropolen“ einen Sammelband über ihn veröffentlicht: „Grenzgänge“. Es ist eine großartige Hommage an diesen homme des lettres, den man nie auf ein Genre festlegen konnte. Reiseschriftsteller, Polemiker, Literaturkritiker, Essayist, Romancier - er ist von allem etwas, wechselt mit leichter Hand zwischen den literarischen Welten. In Österreich hat er eine Menge Preise gewonnen, man kann sich vorstellen, dass die Auslober manchmal mit den Zähnen geknirscht haben müssen, ehe sie sich auf ihn einigten, weil er wirklich nicht mehr zu übersehen war. Denn dort, wo Literatur entweder ein lebensgefährlicher Extremsport ist oder eine Gemütsart, die man am besten im Café Hawelka bei einem Gespritzten ausübt, ist er für jeden gestandenen Wiener ein Provinzler. Zudem einer, den die Provinzen, die Ränder dessen, was einmal die k.u.k. Monarchie war, mehr interessieren als die Metropole. Einer, der nach den „Aromunen, den Roma, den Sepharden, den Sorben, Assyrern, Zimbern, Karamainen oder versprengten Deutschen“ sucht, etwa den Donauschwaben oder Banatern. Er hat nach ihnen jahrzehntelang in ihren häufig schwierig auffindbaren Schriften geforscht und sie dann auf ausführlichen Reisen besucht.
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Was er „gefunden“ hat, oder was ihm begegnete, beschrieb er in seinen Essays. Dabei geriet er immer wieder vom gebahnten Wege ab, ließ sich von Assoziationen und Analogien weiter tragen. Etwa so: im burgundischen Beaune, im berühmten Hôtel-Dieu, diesem wunderbaren Armenhospital, das der Kanzler Roulin um seines Seelenheils willen hatte bauen lassen (er hatte es nötig, galt er doch in einer Zeit, als das gang und gäbe war, als besonders korrupt), begegnete Gauß einem Mann, der ständig Grimassen schnitt. „Er war etwa so alt wie ich, drahtig, hatte kurzgeschorenes Haar und einen kuriosen Bart, der als dünner weißer Strich von der Unterlippe zum Kinn hinunterführte, wie eine schmerzende Kerbe.“ Abends begegnete er ihm wieder, als „Alleinesser“ im Hotel und schildert ausführlich seine Grimassen: „Ich bin Zeuge eines psychischen Elementarereignisses, eines grandiosen Schauspiels der malträtierten Natur… Ein derart dramatisches Gesichtsspiel habe ich noch nicht gesehen, auch nicht als Kind, wenn wir an verregneten Ferientagen unsere Weltmeisterschaft im Grimassenschneiden veranstalteten und die Kinder der Gegend sich abmühten, einander im Grimassieren zu übertreffen. Das ganze Gesicht des Alleinessers scheint zugleich aufgebläht und zusammengedrückt, von einer immensen Kraft verformt zu werden.“ Eine Studie über menschliche Befindlichkeiten und ihre minutiöse Beschreibung.
Damit hat es nicht sein Bewenden. Gauß springt von Beaune nach Wien zum Unteren Belvedere, einem Teil der Schlossanlage, die Prinz Eugen sich von Lukas von Hildebrandt hat bauen lassen. Denn dort gibt es einen Ausstellungsraum voller „Köpf-Stückhe“ des österreichischen Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt, die dieser zwischen 1777 und 1783 geschaffen hat: „Es sollen 69 sein, die er davon verfertigt hat… siebzehn davon aus Alabaster, die meisten aus Metall gefertigt… Was sie zeigen, das sind die wildesten Grimassen der Kunstgeschichte, Gesichter, die in vorher nie gesehener Weise verzerrt sind.“ Und dann beschreibt Gauß diese Zerrbilder und das merkwürdige Schicksal ihres Schöpfers, dem er nachgespürt hat. Denn es geht noch weiter mit den Abirrungen. Einer der Köpfe stellt den Fürsten Joseph Wenzel von Liechtenstein dar und der hatte einen Kammerdiener, Angelo Solimann, der als erster Berater und „Einflüsterer“ des Fürsten zu Macht und Ansehen kam. Denn Solimann, der „Mohr“ war beliebt „und wurde in seinen letzten Lebensjahren Mitglied der Freimaurerloge ‚Zur wahren Eintracht’. Der vom Volk geliebte, in den gebildeten Kreisen hochgeschätzte Solimann starb am 21. November 1796 und - wurde tags darauf ausgestopft. Denn Solimann war ein Afrikaner, der als Sklave nach Wien gebracht worden war.“ Diese Geschichte ist damit noch nicht zu Ende: Der Ende des 19. Jahrhunderts weithin bekannte Arzt Ernst von Feuchtersleben, ein früher Vorkämpfer der Psychosomatik, die es damals noch gar nicht gab und dessen Buch „Zur Diätetik der Seele“ ein Bestseller wurde, hatte eine Großmutter, „die schöne Mulattin“, so sagte man, die eine Tochter des ausgestopften Kammerherrn und Sklaven Solimann war. Feuchtersleben, der Seelentröster des Bürgertums, ein Halbblut? Es wäre so schön gewesen, aber Gauß fand heraus, dass der Vater des Arztes zweimal geheiratet hatte, erst die Mulattin, dann, nach deren frühen Tod, eine andere Frau. Feuchtersleben, der Berühmte, stammte aus der zweiten Ehe. Dessen Diktum über das menschliche Maß zitiert Gauß: „In der Brust jedes Menschen schlägt ein entsetzlicher Keim von Wahnsinn. Ringt mittels aller heitern und thätigen Kräfte, dass er nie erwache.“
So weit können Assoziationen geraten, wenn sie dem Richtigen kommen. Und noch mehr: Ingeborg Bachmanns, sehr nahe am Wahnsinn angesiedelter Roman „Malina“ spielt in der Wiener Ungargasse: ausgerechnet dort hat auch Messerschmidt gewohnt, in der Nummer 6, Bachmanns Roman hat Nummer 5 zum Schauplatz.
Man muss das alles so ausführlich schildern, weil es typisch ist für Gauß` Methode – vom Gewussten, Angelesenen immer weiter zu gehen, Hintergründe, auch Begründungen zu finden, etwas zu erklären, besser aufzuklären, bis in unsere Gegenwart.
Nirgends habe ich bisher eine klügere Erklärung der fanatischen nationalistischen Verspannungen Serbiens gelesen, die den blutigen Krieg der Mladic und Karadžić deutlich werden lassen, nie eine bessere, genauere Geschichtserzählung über Rumänen, Kroaten und Slowenen. Er ist dort überall gewesen, hat nachgefragt bei den Schriftstellern - den vergessenen mehr noch als den bekannten - und inständig hingesehen: er weiß Zeichen und Menschen zu deuten, weil er sich ihnen ohne alle Vorurteile nähert, sie begreifen will. Gauß ist ein zuverlässiger Führer durch die Welt der untergegangen Völker vom slawischen Rand Europas. Aber auch jenes Elsass im Westen, das so oft den „Besitzer“ wechselte, kennt und schildert er. Dort allerdings, beim Porträt des Städtchens Sélestatt/Schlettstadt, hat der Verlag einen dicken Fehler stehen lassen: nicht „Sesenheimer“ sondern „Isenheimer“ Altar muss es heißen.
Gauß war auch in Siena, er hat dem Piccolomini-Papst nachgespürt und ist auf dem halbrunden „Campo“ einer alten Bettlerin begegnet: „Ich schaute auf den Platz, den viele für den schönsten Italiens halten und den ein Frommer in seiner Verzückung gar zum Vorzimmer des Paradieses erklärt hat, und freute mich, dass sich die Roma, aus der Vorhölle, in der sie verborgen bleiben sollten, auf den Weg gemacht haben, um überall in Europa sichtbar zu werden. Ihre körperliche Anwesenheit ist die einzige Chance, die wir haben, um uns an sie zu erinnern, die Unsichtbaren.“ Für Gauß sind sie in dieser Bettlerin anwesend.
Gauß steht auf ihrer Seite, wie er immer auf der Seite der Unterlegenen steht, der ganz oder halb Vergessenen, die einmal in ihren Völkern, in ihrer Sprache für eine bessere Zukunft kämpften. Es sind viele, denen er Epitaphe setzt. Und was er über den Feldherrn und gelehrten Fürsten Charles de Ligne schreibt, der seine literarischen Stücke „Ècarts“ nannte, trifft auf ihn zu: „Dieser Autor lässt sich von jeder Idee, die ihm kommt, verführen, er erfreut sich an ihr, er bestaunt sich selbst in seinen Gedanken und er springt fortwährend von einem zu anderen, er schweift ab, kehrt zum Thema zurück, um es gleich wieder zu verlassen, er wechselt die Zeiten, die Schauplätze, das Personal.“
Es ist kein Zufall, sondern kompositorische Souveränität des erfahrenen Zeitschriften-Herausgebers, wenn Gauß das Porträt Lignes ans Ende seines Buches setzt. Er selbst ist ein aufgeklärter Zeuge einer Gegenwart, in der er nach den Spuren Alteuropas fahndet und im Fürsten Ligne einen Vorfahren im Geiste entdeckt.
Dass dies nur ein Teil seiner Arbeit ist, erfährt man in dem Buch „Grenzgänger“, das alle Facetten des Schriftstellers Gauß behandelt, von Autoren, die ihn gut kennen, die ihn mögen und die uns mächtig Appetit machen zum Beispiel auf seine Tagebücher, die „Journale“, auf seine literarischen Kritiken, auf jene politischen Einlassungen, die ihm eine solide Phalanx von Feinden (in Österreich) eingetragen haben und das Übergehen seines Werks im Land nebenan. Denn einen so brillanten Schreiber, einen so zur Empathie neigenden Zeitzeugen, einen so peniblen Historiker kann man nicht beiseite lassen. Es sei denn, es passt einem die ganze Richtung nicht. Damit aber machte man einen großer Fehler. Denn wie der slowenische Schriftsteller Drago Jančar schreibt: „Karl-Markus Gauß ist einer der wenigen europäischen Schriftsteller und Essayisten, dessen Bücher und Artikel ohne besondere Schwierigkeiten die unsichtbare Grenze zwischen Ost und West überschreiten; jene Grenze, die weder der Fall der Berliner Mauer noch der Urknall der EU-Osterweiterung bisher haben auslöschen können.“ Gauß lesen!