HIRSCH, REECE: Der Informant. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Windgassen. Rowohlt Polaris, Reinbek 2011. 384 S., 13,95 €.
Von Angelo Algieri
Was wäre, wenn Microsoft und Dell fusionieren würden? Und Dell im Geheimen einen Vertrag mit der Sicherheitsbehörde NSA geschlossen hätte: Jeder Chip würde einen Code enthalten, der der NSA sämtliche Daten übertragen würde – die Regierung würde so seine eigenen Bürger ausspionieren. Dieser Verschlüsselungscode wäre so konstruiert, dass es sich ständig wandele. Eine Entschlüsselung unmöglich – außer man hat den Originalschlüssel. Und wenn dann noch die Mafia und Terroristen von diesem geheimen Vertrag erführen, würde die NSA genau das Gegenteil erzeugen.
So das erschreckende Szenario, das der amerikanischen Autor Reece Hirsch in seinem Thriller „Der Informant“ erzählt. Das Buch ist bei rowohlt Polaris, der seit März 2010 gegründeten unterhaltsamen Sparte Rowohlts, erschienen.
Der Protagonist und erfolgreiche Anwalt Will übernimmt ein Fusionsprojekt zwischen zwei Softwareunternehmen im fortgeschrittenem Stadium - nachdem sein Kollege aus dem Kanzlei-Fenster des 38. Stocks eines hohen Gebäudes in San Francisco fiel. War es Mord? An diesem Fusionsprojekt ist auch die russische Mafia interessiert. Will wird von der Mafia-Köderin Katya gelockt. Und ab da gestaltet sich das Leben für Will sehr schwierig. Er steht vor der Entscheidung: Schweigen für seinen Mandanten oder für die Mafia vorteilhafte Informationen verraten? Denn die Mafia erpresst ihn. Sie will zunächst Insider-Informationen, um an der Börse Gewinne zu generieren. Doch dieser Gewinn stellt sich nicht ein ...
Zudem hat Will ein anderes Problem: Die Börsenaufsicht und das Wirtschaftsministerium ermitteln gegen ihn. Sie glauben, dass er der Hauptinformant für die russische Mafia sei. Doch es kommt noch schlimmer: Will wird aufgrund einer missverständlichen Handlung aus seiner Kanzlei gefeuert. Und jetzt kommt, was kommen muss: Der Wendepunkt. Will gelingt es – wie es nur Tom Cruise in seinen Filmen gelingt – alles zu lösen und nebenbei die Welt zu retten. Denn islamistische Terroristen versuchen einen Anschlag im U-Bahn-Verkehr von San Francisco auszuüben – oder gehört der Anschlag gar zu einem größeren Plan?
Autor Reece Hirsch zeigt in seinem spannend-geschriebenen Thriller, welche technischen Möglichkeiten sowohl Regierung als auch das organisierte Verbrechen bereits heute haben, den „normalen“ Bürger Schaden anzurichten. Die Regierung vereinbart über die US-amerikanische Nationale Sicherheitsbehörde NSA einen Geheimpakt mit einer Softwarefirma, Dell vergleichbar, damit der Bürger ausspioniert werden kann. Klar: als Abwehrmaßnahme gegen den internationalen Terrorismus. Doch ab wo fängt die Abwehrmaßnahme an und wo hört sie auf? Geheimpakte sind deshalb gefährlich, da sie sich einer öffentlichen oder parlamentarischen Kontrolle entziehen. Und wie weit soll sie gehen? Kann eine andere US-amerikanische Regierung es weiter ausnutzen und daraus jeden a priori verdächtigen, der sich unamerikanisch verhält? Erinnerungen werden an die McCarthy-Ära wach, in der namhafte Autoren – darunter Thomas Mann und Bertolt Brecht – im Visier des FBI kamen. Ihnen wurde zum Teil kommunistisch-revolutionäre Tätigkeiten und/oder Spionage für die UdSSR vorgeworfen.
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Andererseits verweist Hirsch, wie durch diesen Geheimpakt Begehrlichkeiten geweckt werden. Durch den Sicherheitscode kann das organisierte Verbrechen – hier die russische Mafia und der islamistische Terrorismus – es für sich nutzen. Etwa Kontonummern stehlen, Insider-Informationen ausnutzen oder Sicherheitsinformationen herausziehen und so einen Anschlag erleichtern. Folglich würde der Geheimpakt in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht im Sinne der NSA. Hirsch zeigt zudem auf, dass es in solchen Operationen trotz technischer Möglichkeiten, dennoch sehr menschelt. Ein Grund, weshalb alles gut geht: das Verliebtsein.
Trotz dieser komplexen, lobenswerten Kernthematik, die an den Großen Bruder von George Orwells „1984“ erinnert, verstehe ich nicht, weshalb alte und neue Feindbilder dafür herhalten müssen. Wie ein Relikt aus dem Kalten Krieg muss der Russe – hier im Gewand der Mafia – für den Bösewicht herhalten. Nicht genug! Das neue Feindbild, der islamistische Terrorist, der seit spätestens den Anschlägen vom 11. September 2001 für das Böse schlechthin steht, kollaboriert mit dem alten Feindbild. Selbst in unterhaltsamen Hollywood-Filmen gibt es den guten und schlechten Russen oder den guten und schlechten Moslem.
Eine ausdifferenzierte Betrachtungsweise hätte dem Thriller „Der Informant“ gut getan. Der in San Francisco tätige Anwalt Hirsch hätte gerade nach den Anschlägen von 9/11 ein Zeichen dagegensetzen können. Die Vorurteile gegenüber Moslems gibt es in den USA nach wie vor. Man denke an die Diskussion um die Bebauung einer Moschee in der Nähe von Ground Zero oder die teils absurde Diskussion über den zweiten Vornamen des US-Präsidenten Obama: Hussein. An dieser Stelle hätte Hirsch einen neuen Akzent setzen können. Stattdessen schürt er Ängste und bedient sie!