BERLIN (BLK) – Der Roman „Adam und Evelyn“ von Ingo Schulze ist im August 2008 im Berlin Verlag erschienen.
Klappentext: Spätsommer 1989, Ferien am Balaton — plötzlich öffnet Ungarn die Grenze, und der verbotene Westen mit all seinen Verlockungen ist zum Greifen nah. In dieser Situation entdeckt Ingo Schulze den Mythos von Adam und Eva. Entstanden ist eine große Tragikomödie über Verbot und Erkenntnis und die Suche nach dem wahren Paradies. Die Frauen lieben Adam, weil er ihnen Kleider schneidert, die sie schön und begehrenswert machen. Adam liebt schöne Frauen. Wenn sie erst seine Kleider tragen, begehrt er sie alle, und abgesehen davon liebt er Evelyn. Die ertappt ihn eines heißen Augusttages 1989 in flagranti mit einem seiner Geschöpfe. Statt mit Adam fährt Evelyn gemeinsam mit einer Freundin und deren Westcousin nach Ungarn an den Balaton. Adam setzt sich mit seinem alten Wartburg dem roten Passat auf die Spur. Für Evelyn würde er bis ans Ende der Welt fahren — und vielleicht muss er das auch, denn Ungarn will die Grenze gen Westen öffnen. Plötzlich ist die verbotene Frucht greifbar, und alle müssen sich entscheiden. In der Ausnahmesituation jenes Spätsommers 1989, dem Schwebezustand plötzlicher Wahlfreiheit, entdeckt Ingo Schulze die menschliche Urgeschichte von Verbot und Verlockung, Liebe und Erkenntnis und nicht zuletzt der Sehnsucht nach dem Paradies. Doch wo ist das zu finden? In der Verheißung des Westens, der Ungebundenheit eines endlosen Feriensommers am Plattensee oder doch im vertrauten Amtsstubenduft einer frisch geöffneten Brotkapsel und dem eigenen Garten? Im Spiel mit dem biblischen Mythos von Adam und Eva gelingt Ingo Schulze eine grandiose Tragikomödie. Mit seinem ironisch gebrochenen Begriff vom Sündenfall findet er eine Chiffre für den Eintritt in unsere heutige Welt.
Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren, studierte klassische Philologie in Jena und arbeitete in Altenburg als Schauspieldramaturg und Zeitungsredakteur. Seit 1993 lebt er in Berlin. Mit seiner Lebensgefährtin Natalia Bensch hat er zwei Töchter, Clara und Franziska. Für sein erstes Buch „33 Augenblicke des Glücks“ (Berlin Verlag 1995) wurde er u. a. mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Für „Simple Storys“ (Berlin Verlag 1998) erhielt er den Berliner Literaturpreis mit der Johannes Bobrowski-Medaille. Der New Yorker zählte ihn im gleichen Jahr zu den „Six Best European Young Novelists“ und der Londoner Observer nannte ihn einen der „21 Autoren, nach denen man im 21. Jahrhundert Ausschau halten sollte.“ 2000 erschien „Von Nasen, Faxen und Ariadnefäden“ (zusammen mit Helmar Penndorf). 2001 erhielt er den Joseph-Breitbach-Literaturpreis. 2005 wurde sein Roman „Neue Leben“ (Berlin Verlag) veröffentlicht und 2007 bekam er für seinen zweiten Erzählungsband „Handy“ (Berlin Verlag) den Preis der Leipziger Buchmesse. Ingo Schulze ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtkunst. Seine Bücher wurden in 27 Sprachen übersetzt. (mir/bah)
Leseprobe:
© Berlin Verlag ©
DUNKELKAMMER
Plötzlich waren sie da, die Frauen. Sie erschienen aus dem Nichts, angetan mit seinen Kleidern, Hosen, Röcken, Blusen und Mänteln. Manchmal war ihm, als träten sie aus dem Weiß hervor oder als wären sie einfach aufgetaucht, als hätten sie endlich die Oberfläche durchbrochen und sich gezeigt. Er musste nur die Schale mit der Entwicklerflüssigkeit etwas ankippen, mehr brauchte er nicht zu tun. Erst war nichts und dann etwas, auf einmal war es da. Doch der Augenblick zwischen dem Nichts und dem Etwas ließ sich nicht fassen, ganz so, als gäbe es ihn nicht.
Das große Blatt glitt in die Schale. Adam wendete es mit der Plastezange, stupste es tiefer, wendete es abermals, starrte auf das Weiß – und betrachtete dann so andächtig das Bild einer Frau im langen Kleid, das eine Schulter frei ließ und sich spiralförmig um den üppigen Körper wand, als wäre ein Wunder geschehen, als hätte er einen Geist gezwungen, seine Gestalt zu offenbaren.
Adam hielt das Foto mit der Zange kurz hoch. Die schwarze Fläche des Hintergrunds war jetzt heller, ohne dass Kleid und Achselhöhle an Kontur verloren. Vom Rand des Aschenbechers nahm er die Zigarre, sog daran und blies den Rauch über das nasse Bild, bevor er es ins Stoppbad tauchte und von da in die Schale mit dem Fixierer.
Das Quietschen der Gartenpforte machte ihn unruhig. Er hörte die lauter werdenden Schritte, drei Stufen hinauf, sogar das dumpfe Geräusch der Einkaufstasche, als sie beim Aufschließen gegen die Haustür schlug.
„Adam, bist du da?“
„Ja!“, rief er gerade so laut, dass sie ihn hören musste. „Hier!“
Ihre Absätze gingen über seinen Kopf hinweg, während er das Negativ anhauchte, mit einem Lederläppchen putzte und wieder in den Vergrößerungsapparat einlegte. Er stellte das Bild scharf und machte das Apparatlicht aus. In der Küche wurde der Wasserhahn auf- und wieder zugedreht, die Schritte kehrten zurück – plötzlich hüpfte sie auf einem Bein, sie zog ihre Sandalen aus. Die leeren Flaschen in dem Korb, der hinter der Kellertür stand, klirrten.
„Adam?“
„Hm.“ Er nahm ein Blatt aus der Verpackung, 18 mal 24, und schob es im Vergrößerungsrahmen zurecht.
Stufe für Stufe stieg Evelyn hinunter. Ihre Finger würden wieder staubig sein, weil sie mit der Hand die niedrige Decke entlangtastete, um nicht anzustoßen.
Noch einmal nahm er kurz die Zigarre und sog mehrmals daran, bis er ganz in Rauch gehüllt war.
Die Zeitschaltuhr stellte er auf fünfzehn Sekunden und drückte den großen rechteckigen Knopf – das Licht ging wieder an, die Uhr begann zu brummen.
Als würde Adam etwas verrühren, bewegte er über dem Kopf der Frau einen plattgeklopften Aluminiumlöffel, zog ihn katzenhaft schnell zurück, streckte seine Finger vor, die, als plätscherten sie im Wasser, den Körper der Frau beschatteten, und nahm sie wieder zurück, bevor das Apparatlicht ausging, das Brummen verstummte.
„Puah! Das stinkt. Mensch, Adam, musst du hier auch noch rauchen?!“
Adam tauchte das Papier mit der Zange in den Entwickler. Er mochte es nicht, wenn man ihn bei seinen Bildern störte. Nicht einmal ein Radio duldete er hier.
Evelyn, die selbst barfuß einen halben Kopf größer war als Adam, tastete sich zu ihm und berührte seine Schulter. „Ich dachte, du machst uns was zu essen?“
„Bei der Hitze? Ich hab die ganze Zeit Rasen gemäht.“
„Ich muss los.“
Auf dem weißen Papier erschien wieder die Frau in dem langen Kleid. Adam ärgerte sich, dass sie offenbar den Bauch einzog, ja er glaubte ihrem Lächeln anzusehen, dass sie die Luft anhielt. Aber vielleicht täuschte er sich auch. Mit der Zange stippte er das Bild ins Stoppbad und gab es von dort in den Fixierer. Dann nahm er ein neues Blatt aus der Packung, faltete es in der Mitte und riss es an der Tischkante entzwei. Die andere Hälfte steckte er zurück in die Packung.
„Was isst du denn?“, fragte er.
„Augen zu. Nun schiel nicht so.“
„Sind die gewaschen?“
„Ja, ich vergifte dich schon nicht“, sagte Evelyn und steckte ihm eine Weintraube in den Mund.
„Wo gab’s die denn?“
„Bei Kretschmanns, der Alte hat mir ne Tüte mehr rübergereicht, wusste gar nicht, was drin ist.“
Das Vergrößerungslicht ging an.
„Was sag ich denn nun der Gabriel?“
„Halt sie hin.“
„Ich muss ihr aber heute was sagen. Wenn sie mir schon im August Urlaub geben, muss ich den nehmen.“
„Die spinnt wohl. Wir fahren, wann wir wollen.“
Das Licht ging aus.
„Wir wollten ja im August. Du hast August gesagt, und Pepi hat auch gesagt, dass August besser wäre. Ohne Kinder gibt’s eigentlich nie frei im August. Außerdem läuft das Visum ab.“
„Das ist kein Visum.“
„Ist doch egal, wie das Ding heißt. Wir haben für August beantragt.“
„Das ist bis zehnten September gültig.“
Adam zog das Papier durch die Schale, wendete es zweimal.
„Die ist ja scharf“, sagte Evelyn, als die Frau im Hosenanzug erschien, die die Hände in den Rücken stützte und ihre Brüste nach vorn drückte.
„Gab’s Post?“, fragte Adam.
„Nichts“, sagte Evelyn. „Warum fahren wir nicht mit dem Zug?“
„Ich will nicht immer am selben Ort hocken. Ohne Auto ist es langweilig. Hast du noch mehr?“
Evelyn schob ihm die restlichen Weintrauben in den Mund und wischte die nassen Hände an ihrer Jeans ab. „Und was sage ich nun der Gabriel?“
„Wenigstens eine Woche, eine Woche soll sie uns noch lassen.“
„Dann ist der August so gut wie rum.“
„Kannst Licht machen“, sagte er, als er das Probefoto in den Fixierer gelegt hatte. Er ging hinüber zu dem eckigen Waschbecken, in dem schon mehrere Fotos schwammen, fischte eins heraus und hängte es an die Leine zu den anderen.
„Wer ist das?“
„Lilli.“
„Und in Wirklichkeit?“
„Renate Horn aus Markkleeberg. Krieg ich noch was?“
„Musst du hochgehen. Und die hier?“
„Kennste doch, Desdemona.“
„Wer?“
„Na die Albrecht, aus der Poliklinik, die Gynäkologin.“
„Die mit dem Algerier?“
„Die hat keinen Algerier. Ihr habt euch sogar mal die Handgegeben. Das da“ – Adam deutete auf ein Foto an der Leine – „hab ich ihr im Juni gemacht.“
„Sag mal …“ Evelyn stellte sich dicht vor das Foto. „Hat die meine Schuhe an, das sind doch meine Schuhe?!“
„Wie?“
„Das sind meine, da, die Spitze, die Schramme, sag mal, spinnst du?!“
„Die haben alle keine Ahnung von Schuhen, die kommen immer mit solchen Tretern, das verschandelt alles, für ne halbe Minute …“
„Ich will aber nicht, dass deine Weiber meine Schuhe anziehen. Ich will auch nicht, dass du sie im Garten fotografierst und erst recht nicht im Wohnzimmer!“
„Es war so heiß oben.“
„Ich will das nicht!“ Evelyn betrachtete nun auch die anderen Fotos genauer. „Fahren wir übermorgen?“
„Sobald unser Schlitten da ist, geht’s los.“
„Das hör ich seit drei Wochen.“
„Ich habe angerufen. Was soll ich denn machen?“
„Wir fahren gar nicht, da geh ich jede Wette ein.“
„Du verlierst.“ Adam holte Foto um Foto aus dem Wasser und hängte sie auf. „Du verlierst garantiert.“
„Wir kriegen nie wieder ein Visum. Jetzt würden die uns schon gar keins mehr geben. Inzwischen musst du mindestens fünfzig sein, sagt die Gabriel.“
„Die Gabriel, die Gabriel. Die erzählt viel, wenn der Tag lang ist.“
„Das hier ist schön. Ist das rot?“
„Blau, Seide.“
„Warum machst du keine Farbfotos?“
„Die Seide hat sie sich mitbringen lassen, die Seide, und das hier …“ Adam hielt ein Foto hoch, auf dem eine junge Frau in kurzem Rock und einer weiten Bluse zu sehen war.
„Schweineteuer das Zeug, sogar im Westen, aber das spürst du gar nicht auf der Haut, so fein ist das.“
Adam faltete ein nasses Foto zusammen und warf es in den Papierkorb.
„Was machst du?“
„Das war nix.“
„Warum nicht?“
„Zu dunkel.“
Evelyn griff in den Papierkorb.
„Der Hintergrund ist voller schwarzer Löcher“, sagte Adam.
„Ist das Lilli?“
„Richtig!“
Evelyn warf das Foto zurück und ging hinaus in den Vorraum zu dem Regal mit dem eingeweckten Obst.
„Das wird auch nicht weniger. Willst du Birne oder Apfel?“
„Ist noch Quitte da? Mach die Tür zu!“
Adam schaltete das Licht aus und wartete, bis die Tür ins Schloss fiel.
„Von 85, wenn das hier eine Fünf ist“, rief Evelyn von draußen.
„Ist doch egal.“ Er zog das halbe Blatt aus der Verpackung, legte es unter den Apparat, wählte ein neues Negativ, stellte scharf und drückte den Knopf der Zeitschaltuhr. Adam brummte in derselben Tonlage mit.
„Willst du auch ein Schälchen?“
„Später.“
„Gehst du heut ins Museum?“
„Haben die Führungen schon wieder begonnen?“
„Ja, und ich verpass mal wieder alles.“
„Ich kann auch nicht, hab noch ne Anprobe“, sagte Adam. Einen Moment blieb es still. Er ließ das Blatt in die Flüssigkeit gleiten, drückte es nach unten. Im Vorraum klackte der Lichtschalter.
„Evi?“
Er hörte wieder das Klirren der leeren Flaschen.
„Evi!“, rief er und wollte ihr schon nach, doch im nächsten Moment beugte er sich tiefer über die Schale, als wollte er sichergehen, dass die Frau, die dort gerade lachend und mit ausgebreiteten Armen erschien, tatsächlich ihn ansah.
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Literaturangaben:
SCHULZE, INGO: Adam und Evelyn. Berlin Verlag, Berlin, 2008. 320 S., 18 €.
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